Inhalt

USA, 2032. Im Niemandsland zwischen Mexiko und den USA wird eine junge Migrantin in Fetzen gerissen. Beiderseits der Mauer beben die Menschenmassen vor Wut. Die amerikanische Grenzschutzpolizei droht mit Schüssen. Geschockt verfolgen Vali, ihr Bruder Ernie und ihre Mutter diese Szenen im Livestream. Bis auf Ernie trägt keiner von ihnen einen legalen ID-Chip unter der Haut, der eine US-Staatsbürgerschaft bezeugt. Von ihrem Heimatort in Vermont aus machen sie sich auf den Weg nach New York City, wo sie auf die Hilfe der Nonne Lottie hoffen. Verzweifelt und ausgehungert müssen sich die Geschwister schließlich ohne Mutter durchschlagen. Die Geistliche vertraut sie einem Schleuser an. Eingepfercht in einem stinkenden Fleisch-Kühllaster werden sie irgendwo im Mittleren Westen ausgesetzt. Zusammen mit einer kleinen Gruppe durchqueren Vali und Ernie die von der Klimakrise schwer gezeichnete Region bis sie erneut an Menschenhändler geraten. Es kommt zur Tragödie. Auf einem Güterzug und zu Fuß durch die erbarmungslose Wüste Arizonas ziehen die Geschwister und der philippinische Teenager Malakas weiter. Sie erreichen die kalifornische Grenze, an der erste Mauerstücke die Trennung von The Other 49 markieren. Drohnen kreisen am Himmel, werfen Landminen und Metallnetze ab. Aussichtslos erscheint der Eintritt in den Sanctuary State [1]. Doch der Colorado River reißt die Jugendlichen mit...

Kritik

Anschaulich stößt der Roman das Lesepublikum brutal in das Geschehen hinein, das als dystopisches angedacht war. Die Gestaltung der erzählten Welt und Handlung zeigt jedoch rasch, was die kolumbianisch-stämmige Aktivistin Paola Mendoza und die US-amerikanische Performerin Abby Sher in ihren Anmerkungen auf den letzten Seiten des Jugendbuches einräumen: Der Roman skizziert nicht das düstere Bild einer fernen Zukunft, sondern ist als Kondensat von Ereignissen, Erfahrungen und Emotionen zu lesen, die das gegenwärtige Leben von Migranten und besonders Migrantinnen auf ihren Wegen in die USA bzw. innerhalb dieser kennzeichnen. Die von ihnen durchlebten Widrigkeiten, Ängste und Schikanen haben sich unter der Präsidentschaft Trumps (2017–2021), während der Sanctuary entstand, nicht nur potenziert. Die medial vermehrt sichtbaren "gnadenlosen Verhaftungen, Abschiebungen und Familientrennungen" (S. 342) riefen auch weltweit Entsetzen hervor. So ist es eher die damit verbundene Furcht vor einem Abdriften des Landes in autoritäre Machtgefilde, welche sich konkret im subkutanen ID-Chip als Überwachungsinstrument versinnbildlicht, die der Erzählung ihren dystopischen Hauch zu verleihen vermag. 

Durch ihren gefälschten ID-Chip wird die Schülerin Valentina González Ramirez zur Flucht quer durch die USA gedrängt, deren beschwerliche Etappen sie aus der Ich-Perspektive in den ersten 27 Kapiteln in der Vergangenheit beschreibt. Zusammen mit ihrem 8-jährigen Bruder und ab der zweiten Romanhälfte auch mit weiteren Undokumentierten aus den Philippinen, Guatemala und Brasilien, wird sie mit einer langen Reihe an Schwierigkeiten, Hindernissen, Entbehrungen, Gefahren und Gewaltakten konfrontiert. Auch die dabei erlebte Hilflosigkeit, Scham, Verzweiflung, Angst, Panik und Trauer, die Valis Gedanken vermitteln oder einige Dialogszenen erahnen lassen, machen fassungslos. Diese Bestürzung wird dadurch verstärkt, dass viele Figuren ähnliche Szenarien bereits in ihren Herkunftsländern bzw. auf ihrem Weg in die USA erlebt haben, die als einstiges Zielland nun keinen Schutz mehr zu bieten scheinen. Auf ein Lesepublikum, das von Fluchterfahrungen nicht direkt betroffen ist, von diesen Qualen und Abscheulichkeiten zumindest durch mediale Berichte Kenntnis haben könnte, dürfte die dichte Abfolge an Extremsituationen und -zuständen überwältigend, gar unerträglich wirken. Im Gegensatz zu Dirk Reinhardts Train Kids (2015), das eine Gruppe von Jugendlichen bei ihrer gefährlichen, entbehrungsreichen Flucht auf Zügen durch Mexiko bis an die US-Grenze begleitet, gibt es in Sanctuary kaum Momente der Leichtigkeit und kleinen Freuden. Ihr Fehlen mag der grausamen Realität geschuldet sein, doch in der Fiktion könnten diese nicht nur für jugendliche Rezipient*innen wenigstens kurzzeitig ein Durchatmen von der angespannten, emotional aufwühlenden Leseerfahrung bieten. Als Ernie ausgelassen auf einem Karussell seine Runden dreht, verdunkeln Valis selbstanklagende Gedanken den glücklichen Augenblick ("Aber vielleicht wäre mein kleiner Bruder ohne mich auch besser dran. Sein Chip war echt.", S. 150f.). Da sie als seine große Schwester auf der Flucht schlagartig auch die Mutterrolle übernehmen muss, ist ihre nie abreißende Sorge um ihn, die fast alle 30 Kapitel dominiert, nachvollziehbar. Gepaart ist diese stellenweise mit Schuldgefühlen:

Trotzdem wurde mir ganz schlecht, wenn ich an das viele Leid dachte, das ich Ernie bisher hatte durchmachen lassen – Mami, die im Busterminal auf den Boden gedrückt wurde, Tomas, der im Sumpf ertrunken war, der Vulkan, der von dem Netz in die Luft gehoben wurde. (S. 286)

Dadurch erhält der Roman eine melodramatische Färbung. Intensiviert wird diese durch teilweise stark übertreibende Formulierungen ("Es war wunderschön und schrecklich und faszinierend zugleich, ihn so reden zu hören.", S. 247), die der Tendenz des Amerikanischen zum Superlativischen eigen zu sein scheint, aus dem Stefanie Frida Lemke ins Deutsche übersetzt hat. Gerade weil die mitunter lebensbedrohlichen Strapazen an sich schon erschüttern und Mitgefühl, wenn nicht sogar Mitleid, hervorrufen, kann diese Hyperbolik unangenehm pathetisch wirken: 

Niemand in dieser Stadt wusste, wie laut wir heulen konnten, wenn wir an unsere von uns gerissene Mami dachten.

Niemand in dieser Stadt wusste, wie krass die Sonne brennen konnte, wenn wir durch vertrocknete Wälder liefen, oder wie dunkel es war, wenn wir nachts erschöpft zwischen Bäumen schliefen.

Niemand in dieser Stadt kannte uns – was gut war. (S. 131)

Einige Aussagen erscheinen wenig glaubwürdig, wie z. B. die Beschreibung der dramatischen Durchquerung des reißenden Colorados, die Fokus und Sinne herausfordert:

Wir brauchten fünfhundertdreiundachtzig Züge auf die andere Seite. Fünfhundertdreiundachtzig – das weiß ich so genau, weil ich für Ernie mitzählte. […] Gellende Schüsse flogen nur ein paar Meter vor uns über die Oberfläche. Ich stieß Ernie unters Wasser und tauchte hinab, um ihn festzuhalten. Ließ meinen Mund, meine Nase, meine Gedanken von der kühlen Düsterheit überschwemmen. (S. 310) 

Selbst so ein treffendes Bild wie "Wir waren alle bloß Fleisch. Manche von uns wurden von unserem Verlust und unserer Scham fast erdrückt. Der Rest war zerstückelt und gefroren. Wir alle waren Raubtiere." (S. 186), das die Situation im Kühllaster wiedergibt, ist nicht gänzlich stimmig. Ebenso eigentümlich mutet an, dass Valentina über Ernie sagt "[e]r wirkte wie ein süßes, unschuldiges Kind" (S. 150, Herv. im Original). Das Verb und die Kursivierung scheinen hier fehl am Platz. Bedauerlich ist auch, dass Ausdrucks- und Rechtschreibfehler ("Ich wusste nicht, ob ich schreiend wegrennen oder warten.", S. 154; "hinen fallen", S. 246) dem Lektorat nicht aufgefallen sind. Dagegen sind die auf Spanisch vermittelten Aussagen gut eingebunden. Sie sind entweder bekannt, aus dem Kontext erschließbar oder werden direkt im Anschluss paraphrasiert.

Neben diesen sprachlichen Auffälligkeiten könnte aufmerksamen Rezipient*innen die stereotype Figurenkonstellation deutlich werden. Die Leidtragenden sind ausschließlich People of Color, während Xenophobie, Hass und Bedrohungen von männlichen weißen Figuren auszugehen scheinen. Allein die deutsche Geistliche Lottie spendet Trost, zeigt Mitgefühl und gibt Hoffnung. Erst in dem unabhängig gewordenen Zielland Kalifornien scheinen diese für Undokumentierte keine Seltenheiten mehr zu sein, wodurch jenes als genaues Gegenteil zu den verbleibenden 49 US-Bundesstaaten imaginiert wird. Im Sanctuary State können die Geschwister letztendlich bei ihrer Tante Schutz finden und wieder zur Schule gehen, wie die Ich-Erzählerin in den letzten drei Kapiteln im Präsens beschreibt. Doch diese neu gewonnene Freiheit schafft keine Erleichterung. Einerseits wird die Sorge um Ernesto nun durch das Trauma der Flucht und des Verlustes abgelöst, andererseits fühlt es sich für die Protagonistin gerade aufgrund dieser Erfahrungen nicht richtig an, "dieses neue Leben [zu] erfinden" (S. 337). Zwischen Aufgebrachtheit und Niedergeschlagenheit schwankend kehrt Valentina zur Bewältigung ihres Traumas an den Colorado zurück und scheint darüber hinaus den Weg einer entschlossenen "Freiheitskämpferin" (S. 344) einzuschlagen. Diese lässt sich auch in dem Eyecatcher der selbstbewusst wirkenden jungen Frau auf dem Cover vermuten.

Fazit

Mit Sanctuary, das 2022 für den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Jugendbuch nominiert wurde, legen die Autorinnen einen emotional sehr fordernden Fluchtroman vor, der an Empathie und Solidarität appelliert. Phasenweise scheint er zu explizit Betroffenheit zu suggerieren, die in der bewussten Auseinandersetzung mit der hochaktuellen Migrationsthematik so überwältigend sein könnte, dass sich dadurch ein objektiver Blick leicht verschleiert. Empfohlen wird dieser erste Roman einer Trilogie [2], auch aufgrund brutaler Episoden, erst für Leser*innen ab 17 Jahren, die sich auf diesen einlassen wollen und können.

Literatur

[1] Durch den California Values Act (SB 54) versteht sich der reale US-Bundesstaat Kalifornien seit 2017 als Sanctuary State. Er stellt damit sicher, dass keine staatlichen und lokalen Ressourcen genutzt werden, um das Arbeiten föderaler Einwanderungsbehörden zu unterstützen. Vgl. ACLU of Southern California: California Values Act (SB 54). https://www.aclusocal.org/en/know-your-rights/california-values-act-sb-54 (31.07.2023).

[2] Vgl. Pop Culture Collaborative: Paola Mendoza. https://popcollab.org/projects/paola-mendoza/ (31.07.2023).

Titel: Sanctuary. Flucht in die Freiheit
Autor/-in:
  • Name: Mendoza, Paola
  • Name: Sher, Abby
Originalsprache: Englisch
Übersetzung:
  • Name: Stefanie Frida Lemke
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: Carlsen
ISBN-13: 978-3-551-58441-0
Seitenzahl: 352
Preis: 5,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 17 Jahre
Mendoza, Paola/Sher, Abby: Sanctuary. Flucht in die Freiheit