Inhalt
Emma freundet sich mit Ben an, doch es handelt sich von Anfang um eine ungleiche Beziehung. Nicht nur, dass Ben sich von Emma mehr und intimeren Körperkontakt wünscht als sie sich von ihm, entscheidend ist auch, dass sie aus konträren familiären gesellschaftlichen Verhältnissen stammen. Während das Mädchen mit einer alleinerziehenden Mutter in einer kleinen Wohnung lebt, wächst Ben als einziger Sohn bei reichen Eltern in einer Villa in den Hamburger Elbvororten auf. Zu verbinden scheint die beiden vor allem die Begeisterung für das Computerspiel „Infernia“, in dessen mittelalterlich anmutende und komplexe Spielwelt sie abtauchen. Dort siedelt sich die zweite Handlungsebene des Romans an. Bei ihren Kämpfen in der Computerspielwelt trifft Emma auf die Spielfigur des Soldaten Jero Kramer. Als der im Kampf gegen den bösen Dämonenlord Zardor zwei seiner Männer an die Hölle verliert, ist er verzweifelt und gibt sich die Schuld. Das kann Emma nicht mit ansehen. Jero scheint so sehr zu leiden, dass in ihr die Gewissheit wächst: Diese mit einer Künstlichen Intelligenz ausgestatte Spielfigur hat eine Seele und echte Gefühle! Ben tut das auf der realistischen Erzählebene als lächerlich ab, doch nun schaltet sich Mario ein, ein weiterer Mitschüler Ben und Emmas, der ebenfalls „Infernia“ spielt. Er glaubt Emma, die verzweifelt für Jero zu kämpfen beginnt, sodass insbesondere für Ben der Eindruck entsteht, Emma sei in die Figur verliebt. Zu Hause ficht Emma Kämpfe mit ihrer Mutter aus, die das Gefühl hat, ihre Tochter sei spielsüchtig und darum den Internetanschluss kappt. Als Jero plötzlich aus dem Spiel gelöscht wird, eskaliert die Situation. Der Teenager ist sich sicher: Die Künstlichen Intelligenzen haben Gefühle und müssen geschützt werden. Während Mario ihr bei einer öffentlichen Kampagne, die sich für die Figuren einsetzt, zur Seite steht, distanziert sich Ben vollständig von ihr. So wendet sich die Handlung: Mit einem Mal befindet sich Emma in einem öffentlichen Kampf gegen das Imperium, das das Computerspiel entworfen hat (besonders hier ist die Parallele zu Poznanskis Erebos frappierend). Es ist ausgerechnet Bens Vater, der die Firma betreibt, in der es kriminelle Machenschaften zu geben scheint....
Kritik
Die Dynamik dieser Dystopie zu einem hochaktuellen Thema ist enorm: Schnelle Dialoge und eine rasante Handlungsstruktur tragen zu einem atemlosen Leseerlebnis bei und erinnern an filmisches Erzählen. So hat der Jugendroman alles, was ein Thriller braucht, um gut zu funktionieren, auch wenn die Story mit ihren vielen Handlungssträngen auch etwas überfrachtet ist. Flankiert ist diese spannende Handlungsstruktur von philosophischen Fragen, die (jugendliche) Leser*innen zum Nachdenken anregen (sollen): Können Computerspiele und Künstliche Intelligenzen wirklich leiden?
In der Figurenrede hält Olsbergs Roman folgende Antworten bereit:
Es ist unmöglich zu sagen, was genau im Inneren künstlicher neuronaler Netze vor sich geht. Schon Alan Turing hat das Problem vorausgesehen, deshalb hat er einen berühmten Turing-Test definiert: Eine Maschine ist dann intelligent, wenn sie auf beliebige Fragen so intelligent wie ein Mensch antworten kann. Analog würde ich sagen: Wenn sich ein Computerprogramm so verhält, als würde es leiden, dann müssen wir davon ausgehen, dass es tatsächlich leidet. (S. 208-209)
Rasch wird die Analogie zu Tieren aufgemacht, die ja auch Gefühle haben, „und deren Gehirne sind weit weniger komplex“ (S. 209). Aus Emmas Initiative für die Spielfiguren wird ein öffentlicher Kampf, der nicht nur online und in den sozialen Medien ausgetragen wird, sondern sie auch in eine Talkshow im Fernsehen befördert. Dort wird sie von einem der Produzenten/Entwickler des „Infernia“-Spiels in die Enge getrieben. Er verspricht ihr, Jero wieder zum Leben zu erwecken, wenn sie ihre Kampagne einstellt. Hier wirft der Text moralische Fragen auf und wendet sich in expliziten Leser*innenansprachen direkt an die Rezipient*innen: „Was hättest du an meiner Stelle getan?“ (S. 247). Die Kapitel enden teilweise mit Cliffhangern, sodass sich die Spannung einmal mehr steigert, und münden dann in ebensolche Fragen. Was hättest du getan?
So folgt die Gestaltung bewährten Erzählmustern, hält aber schlussendlich keine einfachen Antworten bereit, sondern endet mit einem moralischen und politisch korrekten Appell, der von hoher Brisanz und Aktualität ist:
Werden wir Menschen es schaffen, unsere eigene Gier und Maßlosigkeit im Zaum zu halten, um unsere Selbstzerstörung zu verhindern? Oder werden uns unsere Überheblichkeit, unsere Kurzsichtigkeit und unser Egoismus in den Abgrund führen? Diese Frage hat sich schon beim Klimawandel gestellt, bei der Ausrottung zahlloser Tierarten und bei der Umweltverschmutzung. Doch durch die Entwicklung superintelligenter Maschinen ist sie noch drängender geworden. Ich hoffe, die Geschichte, die ich dir erzählt habe, hat das deutlich gemacht. (S. 366-367)
Bei aller hier mitschwingender Plakativität: Das hat sie ganz gewiss! Und so wirft Olsberg, der über Künstliche Intelligenz promoviert hat und in diesem Themenbereich starke Sachkundigkeit aufweist, große Menschheitsfragen auf, die hier im Gewand eines spannenden Thrillers daherkommen. Irgendwie ganz großes Kino.
Fazit
Olsberg hat schon in Boy in a white Room und Girl in a strange land große Erzählkraft bewiesen, und das schafft er bei Infernia, das stark an Pozanskis Erebos erinnert, wieder. Seine Stärke ist die Verbindung philosophischer Nachdenklichkeit mit einer funktionierenden, dynamischen Handlung, die Spannung von der ersten bis zur letzten Seite verspricht und damit in erster Linie einfachen Thriller-Mustern verpflichtet ist. Unbedingt empfehlenswert für Jugendliche ab 14 Jahren, vor allem auch für Poznanski-Fans und auch die, die Erebos 2 vielleicht nicht so mochten.
- Name: Olsberg, Karl