Inhalt

Erhard Dietl erzählt die Geschichte seines schwierigen Vaters und nimmt damit vor allem die bayerischen Städte Regensburg und München in den 1950er bis 1970er Jahren in den narrativen Blick. Der Text lässt sich als autobiographische Spurensuche deklarieren, motiviert durch die Frage, die sich auf dem Klappentext liest: „Wer war dieser Mann?“ Dietl zeichnet auf der einen Seite das Bild eines Intellektuellen, der Bücher und Kunst liebte, andererseits das eines tyrannischen Familienvaters, der prügelt und trinkt und sich obendrein als Spion der DDR entpuppt. Dieses Portrait zeigt das Bild eines zutiefst gespaltenen Mannes, der nie Kinder bekommen hätte sollen oder wollen, zu ihnen keine Nähe aufbauen konnte und in nahezu allen Belangen ihnen gegenüber empathielos blieb und obendrein Verhältnisse mit anderen Frauen einging. Die literarische Spurensuche ist achronologisch angelegt. Die Handlung setzt mit dem Tod des Vaters ein, als Erhard Dietl selbst lange schon ein erwachsener Mann und erfolgreicher Kinderbuchautor ist. Neben der Beerdigung ist die Auflösung des riesigen Buchbesitzes zu organisieren, von dem der Vater (vielleicht so typisch für Vertreter dieser Generation) glaubte, er sei ein Vermögen wert. Doch als Dietl den Lieblingsantiquar seines Vaters aufsucht, wehrt der vehement ab:

‘Bitte keine Bücher!‘ stieß er aus. ‚Verschonen Sie mich! Gerade stirbt eine ganze Lesegeneration weg. Ja, was glauben Sie, unser Lager ist sowieso schon randvoll. Wo soll ich das ganze Zeug denn hintun?‘ (S. 14)

Schon an dieser Eingangsszene wird die Widersprüchlichkeit und die rechthaberische Art des Mannes offenbar, der der Bucheigentümer war. In den 1950er Jahren wohnten die Dietls in Regensburg, zu viert in einer kleinen Wohnung. Dietl schildert den beengten Alltag mit der kleinen Schwester Beate, wobei der Fokus stets auf den Vater und dessen fast grausames Agieren gerichtet ist. Er schlägt und demütigt seine Kinder, die Frau leidet still und führt aus. Damit das Kleinkind Erhard nicht stört und nervt, flößen die Eltern ihm Contergan in rauen Mengen ein. Doch an Scheidung oder Trennung dachte zu dieser Zeit niemand, auch nicht, als eine Kinderärztin auf die Blutergüsse der erst zweijährigen Schwester aufmerksam wird. Sie greift nicht ein, und die Mutter wollte „doch nur einen Rat, was ich tun kann, dass er das Kind nicht mehr so haut.“ (S. 37). Seit diesem Zeitpunkt wird Beate nicht mehr geschlagen, und der rechthaberische Vater, der nie einen Fehler zugibt, spottet: „Die Madam darf man ja nicht anrühren, weil die schlaue Doktorin alles besser weiß...“ (S. 37)

Schuld sind in der Kommunikation dieses übermächtigen Vaters, der im Laufe der Jahre stetig an Gewicht zulegt, immer die anderen. So entsteht der Eindruck des Erdrückt Seins durch diesen Mann, der trotz seiner Körperfülle Schlag bei Frauen hat und seine jungen Geliebten vor der Familie nicht verheimlicht. Dass Erhard Dietl sich auch an schöne Momente mit seinem Vater erinnert, versinkt hinter diesem Bild des übermächtigen Mannes, das der Text vordergründig zeichnet.

Kritik

Dieses literarische Portrait ist schonungslos ehrlich und geht eben darum unter die Haut. Gerade die Schilderung des grausamen Verhaltens des Vaters den Kindern gegenüber macht wütend und betroffen. Dennoch polarisiert Dietls Blick auf diesen Vater in keiner Weise, vielmehr liefert er ein differenziertes Bild der Vaterfigur, das sich durch tiefe Ambivalenz auszeichnet.

Darüber hinaus handelt es sich um ein Zeitzeugnis, das auch die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik bzw. in Bayern nachzeichnet und deren Stimmung eindrucksvoll einfängt, zum Beispiel, wenn es um die Nähe des Vaters zu Franz-Josef Strauß geht:

In der CSU-Zentrale ging er fröhlich ein und aus, kannte Franz Josef Strauß schon bald persönlich und bekam einen Bierkrug mit Widmung von ihm geschenkt. Die beiden glichen sich schon rein äußerlich, und man kann sich gut vorstellen, dass Strauß die Eloquenz und große Allgemeinbildung meines Vaters gefiel und er ihn als Gesprächspartner durchaus schätzte. (S. 133)

Solche Passagen, vor allem aber auch die Szenen, in denen der Vater seine Kinder brutal verprügelt, zeigen an, dass es sich bei Ein Vater wie meiner um kein intentionales Kinderbuch handelt, was wiederum die Publikation im Oetinger Verlag nahelegt. So entsteht durch die Vermarktung ein gewisser Widerspruch. Dietls literarische Annäherung an den Vater ist ein eindrucksvolles, tiefsinniges Buch, das so gar nichts mit den manchmal albern wirkenden Olchis zu tun hat. Für erwachsene Leser*innen ist es rundum empfehlenswert, vielleicht für Jugendliche, die in der Kindheit die Olchis mochten und mehr über das Leben des Autors Erhard Dietl wissen wollen. Am Ende geht es dann auch um den Entstehungsprozess der grünen Müllliebhaber*innen, mit denen Dietls Vater so gar nichts anzufangen wusste.

Fazit

Ein eindrucksvolles, bewegendes Buch, das zur eigenen Familienstrukturreflexion anregt, Einblicke in den bundesrepublikanischen Zeitgeist während der Teilung Deutschlands liefert, das aufwühlt, nachdenklich macht und erschreckt. Erhard Dietl zeigt sich von einer neuen, ehrlichen Seite – ausgesprochen empfehlenswert für Leser*innen ab 16 Jahren.

Titel: Ein Vater wie meiner
Autor/-in:
  • Name: Dietl, Eberhard
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: Oetinger
ISBN-13: 978-3-7512-0327-2
Seitenzahl: 246
Preis: 22,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 16 Jahre
Dietl, Eberhard: Ein Vater wie meiner