Inhalt

Schauplatz des neuen Jugendromans von Michaelis ist die Insel Usedom. Und es ist Sommer, ein Sommer, der dem Buch seinen glitzernden Titel gibt. Finnley ist ein Förderschüler und wächst in einer Plattenbausiedlung auf, ebenso wie Leif und Neil, die eine tiefe Freundschaft seit Kindertagen verbindet. Sie schmieden große Pläne für die Zukunft. Doch in diesem heißen Sommer 2022 verdingt sich Finnley erstmal als Eisverkäufer am Strand, um das Familieneinkommen aufzubessern. Denn seine Familie, die aus ihm, einer überforderten, alleinerziehenden Mutter und zwei Halbgeschwistern besteht, ist arm.

Sommerhitze auf der Insel, Stau an der Brücke, Touristen. Sonne auf dem Asphalt. 

Und ich hinter dem Eiswagen: dieser Wagen, auf altmodisch gemacht, mit seinen großen Rädern, mit denen er nie irgendwohin fuhr. (S. 9-10).

Das ist das Ausgangssetting, in dem Finnley auf Ulja trifft, ein aus der Ukraine stammendes Mädchen, in das sich sowohl Finnley als auch seine Freunde schlagartig kollektiv verlieben. Doch Ulja umgibt ein Geheimnis, immer wieder verschwindet sie in diesem glitzernden Sommer, und die Jungen wissen nicht, wohin. 

Sehr schnell nimmt die Handlung an Fahrt auf, denn die jugendlichen Protagonisten finden im Schilf einen abgestürzten russischen Flieger und den toten Piloten. Parallel dazu verbreiten sich in den sozialen Medien wilde Gerüchte, Russland wolle die Insel Usedom angreifen und besetzen und der Ukraine zuteilen. Die Inselbevölkerung ist in Angst und Schrecken versetzt. In der sich nun  rasanten weiterentwickelnden Story kommen die Freund*innen einem Verbrechen auf die Spur...

Kritik

Wild, schräg und kaum nacherzählbar! Antonia Michaelis ist (unter anderem!) bekannt für ihre unkonventionellen und wilden Storys, vor allem im Bereich der Jugendliteratur, man denke beispielsweise an die Tankstellenchips (2018). Hier fährt die populäre Erzählerin noch mehr Geschütze auf als in den Vorgänger-Romanen und schickt ihre Leser*innen in eine verdrehte, spannende Reise zwischen zwei Buchdeckeln, die getragen ist von ihrer viel gerühmten poetischen Sprache. Sie erzählt von einem unglaublichen Sommer:

Es war der Sommer, in dem Neil seinen Hut beerdigte. Der Sommer, in dem ich einen Regenbogen auf einen Pick-up der Bundeswehr malte, obwohl ich Regenbögen früher nie mochte. Der Sommer, in dem Ulja auftauchte und auf mysteriöse Weise wieder verschwand.

Der Sommer, in dem der russische Kämpfer uns in die Arme fiel und die Welt unterging, der Sommer, in dem der Sturm kam und die Fische sprangen.

Der Sommer, in dem wir lernten, wie man eine Jolle bei Gewitter segelt. Was Liebe bedeutet.

Und wie man geht und trotzdem bleibt. (S. 413)

Passagen wie jene machen den typischen Michaelis-Erzählton aus, der die Ostsee in der Vorstellungsbildung der Leser*innen zum Glitzern bringt, „da draußen, gleich hinter der Linie zwischen Wellen und Himmel. Und eine Menge endlose, sonnige Tage. Glitzertage.“ (ebd.) So nähert sich der umfangreiche Jugendroman phasenweise beinahe der Lyrik an, was dazu führt, dass man die Erzählung als besonders empfindet. Dabei handelt es sich hier vielleicht um Michaelis‘ politischsten Roman. Zwar ist ihren Texten stets soziales Engagement eingeschrieben (so zum Beispiel für Madagaskar in Der Koffer der tausend Zauber und Weil wir träumten), doch durch die Imagination des sich auf Usedom ausweiteten Ukraine-Kriegs ist die politische Motivierung besonders stark erkennbar. Dabei geht es vor allem auch um Liebe und ungleiche Freundschaften, um Verbrechen und Verrat. So viel, dass die Handlung teilweise auch überfrachtet wirkt. Sie sensibilisiert für soziale Ungleichheit und die verheerenden Wirkungen von Fake News, für Kriegsverbrechen und Gewaltopfer. Spätestens seit den Märchenerzähler-Bänden wissen wir, dass Michaelis sich auch vor drastischen Gewaltdarstellungen und der Erzählung über sexuellem Missbrauch nicht scheut. All dies spielt sich vor der Kulisse romantischer Naturdarstellungen ab, in denen Michaelis sich einmal mehr als Meisterin der Neologismen zeigt (unvergessen die „Tonnentage“ in Wind und der geheime Sommer!):

Es gibt nichts Schöneres, als in einem lang gezogenen Julisonnenuntergang die Straßen der Insel entlangzufahren, wenn das Licht so goldplüschig auf den Feldern liegt und das Korn so weich aussieht, dass du ein Riese sein und es mit einer Hand streicheln möchtest wie einen Teppich. Wenn der Asphalt auf der Straße aus Samt ist. Wenn du zum Achterwasser abbiegst, wo es weniger Häuser und Menschen und Schilder gibt, und der Wald mit seinen hohen alten Eichen und Buchen in den Himmel greift wie in einen Cocktail aus Licht, Orange und Violett, aus dem die Äste trinken. (S. 40)

Das begeistert bei Michaelis immer wieder aufs Neue, wenngleich die Scheißglitzertage inhaltlich überfrachtet sind und es auch schwerfallen kann, die vielen Handlungsstränge im Blick zu behalten. Auch die Figuren wirken vielleicht ein wenig konstruiert, aber sie bewegen sich passend in diesem ebenso konstruiert wirkenden und ausladendem Setting.

Fazit

Was bleibt von den Scheißglitzertagen? Betroffenheit und ein spannendes Thriller-Lesegefühl, das aber auch Rezipient*innen mit langem Leseatem benötigt (ab 14 Jahren). Ein Buch für Vielleser*innen unter den Jugendlichen, für solche, die Energie für 413 Seiten unfassbare Handlungsdynamik aufbringen. Und die Frage: Was wäre, wenn Deutschland zum Kriegsschauplatz würde? Oder alles nur Fake News sind? Spannende und wichtige Fragen...leichte Antworten liefert der Jugendroman zum Glück nicht.

Titel: Scheißglitzertage
Autor/-in:
  • Name: Michaelis, Antonia
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: Oetinger
ISBN-13: 978-3-7512-0393-7
Seitenzahl: 413
Preis: 20,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 14 Jahre
Michaelis, Antonia: Scheißglitzertage