Inhalt

Die Handlung dieses ausladenden Romans ist in England im Jahr 1914 situiert, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Im Zentrum stehen die Protagonisten Sidney Ellwood und Henry Gaunt, die das Elite-Internat Preshute besuchen. An dieser Jungenschule stehen Mobbing und Prügeleien auf der Tagesordnung. Dazu zählen auch homosexuelle Praktiken, die aber selten mit Liebe, denn vielmehr mit Dominanz- und Machtspielen in Verbindung stehen. Umso größer werden die inneren Qualen, die Ellwood und Gaunt auszustehen haben, denn sie sind ineinander verliebt, trauen sich aber nicht, sich diese Liebe einander zu gestehen. Als dann der Krieg ausbricht, gerät ihre Welt aus den Fugen. Gaunt meldet sich freiwillig, um einen Spionageverdacht von seiner Familie abzuwenden. Doch nach und nach werden die Jungen alle eingezogen und stehen mitten im Feuer der Schlachtfelder. Gaunt und Ellwood sind innerlich getragen von ihren Liebesgefühlen, schreiben einander und wissen nicht, ob der andere noch am Leben ist. Reihenweise sterben alle Mitschüler, die Grausamkeiten des Krieges werden bei der Lektüre fass- und spürbar.

Kritik

Aufgrund der grausamen Kriegserlebnisse der Protagonisten erinnert der Roman tatsächlich an Im Westen nichts Neues. Eindrucksvoll ist die mehrdimensionale und multiperspektivische Erzählweise: Die Fokalisierung wechselt zwischen den beiden Protagonisten Gaunt und Ellwood (beide sind im Text stets nur mit dem Nachnamen benannt). Dazwischen finden sich Briefe, welche die Figuren einander schreiben sowie Zeitungsmeldungen- und artikel und lange Namenslisten der Gefallenen, die mit „In Memoriam“ übertitelt sind (so lautet auch der Titel des Romans im englischen Original). Zudem schreibt Ellwood für Gaunt Gedichte, die dem Text eine poetische Note verleihen. So evoziert der Roman eine fiktionale Authentizität, die der Text auch versucht, in seinen vor allem im Mittelteil vorfindlichen Kriegsbeschreibungen aufrechtzuerhalten. Authentizität gilt der Literaturwissenschaft als Zuschreibungsphänomen, fraglich ist aber, ob man diesen Begriff auch auf die Toleranz gegenüber der erzählten Homosexualität anwenden kann. Dies bliebe zu diskutieren, denn Gaunt und Ellwood erfahren ihrer Liebe wegen keine Ausgrenzung. Wenn sie sich outen, wird dies nahezu kommentarlos hingenommen, was mit Blick auf die historische Faktizität fragwürdig anmutet. Trotz der breiten Anlage des Romans, der immerhin 496 Seiten umfasst, bleiben die Figuren seltsam blass. Die Lektüre kann anstrengend und langatmig sein. Dennoch handelt es sich um einen großen Wurf im geschichtserzählenden Jugendroman, der die Themen Klassismus und Patriotismus eindrucksvoll reflektiert. Den grausam anmutenden Detailreichtum, der ihn durchzieht, illustriert die folgende Textpassage:

„Seine Klinge verfing sich in den Knochen des Jungen. Ellwood musste daran zerren wie an einem Schlüssel, der im Schloss feststeckt. Der Junge schaute ihm dabei zu, benommen, während sein Mund sich öffnete und schloss wie bei einem Fisch. Schließlich feuerte Ellwood sein Gewehr in den Bauch des Jungen ab, und die Wucht des Rückstoßes riss das Bajonett aus seinem Körper heraus. Seinen Bauch umklammernd, fiel er zu Boden.

‚Mutter‘, sagte er.

Aber ein anderer Deutscher kam jetzt aus derselben Richtung. Ellwood warf seine Tasche ab, um sich besser bewegen zu können, und stach dem herannahenden Soldaten ins Auge.“ (S. 389)

Winn schreckt nicht vor der Darstellung der Kriegsgräuel (vornehmlich aus englischer Perspektive) zurück und rückt ihren Roman somit in die Nähe zu Remarque. Darum ist der Text nichts für schwache Nerven und erfordert wegen der ausladenden Erzählweise einen langen Leseatem, den Jugendliche bei der Lektüre mitbringen müssen.

Fazit

Winns Debütroman ist facettenreich und vielschichtig. Ihr gelingt durch eine detailreiche Erzählweise zwar eine plastische und gleichsam grausame Darstellung des Ersten Weltkrieges, aber der Roman wirkt phasenweise langatmig und stellt daher keine leichte Kost dar. Über die Authentizität der erzählten Historie, den Umgang mit dem Wirklichkeitsmaterial und das Verhältnis zwischen Faktizität und Fiktionalität lässt sich gerade im Hinblick auf die homosexuelle Liebesgeschichte streiten. Der Roman fordert leseaffine Jugendliche ab 16 Jahren und ist gewiss nicht als rein intentionale Jugendliteratur, sondern auch als anspruchsvoller literarischer Text für Erwachsene einzustufen.

Titel: Durch das große Feuer
Autor/-in:
  • Name: Alice Winn
Originalsprache: Englisch
Originaltitel: In Memoriam
Übersetzung:
  • Name: Ursula Wulfekamp
  • Name: Benjamin Miller
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2024
Verlag: Eisele
ISBN-13: 978-3-96161-160-7
Seitenzahl: 496
Preis: 24,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 16 Jahre
Winn, Alice: Durch das große Feuer