Inhalt

Tilda ist die Stimme dieser Erzählung. Sie ist Mathematikstudentin, Kassiererin in einem Supermarkt, leidenschaftliche Schwimmerin und die Ernährerin ihrer Familie. Außerdem ist sie eine Kämpferin – Mutter und Schwester vergleichen sie mit Katniss, der Protagonistin aus Die Tribute von Panem (vgl. S. 61). Ihr streng strukturierter Alltag gibt ihr Halt in ihrer prekären familiären Lage: Studium, Arbeit im Supermarkt, 22 Bahnen schwimmen und die Care-Arbeit zuhause. Vor allem aber sorgt sie für ihre 10-jährige Schwester. Denn die alkoholkranke, depressive und alleinerziehende Mutter kommt dieser Aufgabe nicht nach. Seit Tilda 13 Jahre alt ist, übernimmt sie daher Verantwortung für ihre Mutter sowie die mütterliche Rolle für die kleine Schwester Ida.

Als Tilda kurz vor ihrer Masterarbeit steht, erhält sie die Empfehlung sich für ein Promotionsstudium in Berlin zu bewerben. Tilda muss entscheiden, ob sie verantworten kann, ihre jüngere Schwester bei der Mutter zurückzulassen, denn die Promotionsstelle bedeutet zugleich den Auszug aus dem Elternhaus. Nicht nur die Aussicht nach Berlin zu gehen, sondern auch eine Person aus ihrer Vergangenheit, bringt Tilda aus ihrem Rhythmus. Während sie noch mit der Entscheidung ringt, entspinnt sich eine Liebesgeschichte zwischen ihr und Viktor, dem älteren Bruder eines verstorbenen Freundes. Mit Viktor teilt sie nicht nur die Mathematikbegabung und die Trauer um Ivan, sondern auch die Erfahrungen der sozialen Ausgrenzung. Seit Viktor auftaucht, schwimmt Tilda nicht mehr 22, sondern 23 Bahnen.

Kritik

Wahl verwebt geschickt zwei Erzählstränge miteinander, die je in einer Katastrophe gipfeln, dem Tod des Freundes in der Vergangenheit sowie dem Selbstmordversuch der Mutter in der Gegenwart. Tildas Erzählungen in der Gegenwart werden ohne typographische Markierung durch retrospektive Erzählungen von vergangenen Ereignissen unterbrochen. Allein der Tempuswechsel signalisiert den Wechsel der Erzählebenen vom erlebendem zum erzählenden Ich. Vor allem der Sommer der Gegenwart wird durchwebt von den Ereignissen des ebenso schwülen Sommers fünf Jahre zuvor. Die geschachtelten Erzählebenen und Tempiwechsel verlangen einige Konzentration von ihren Leser*innen, verleihen der Erzählung jedoch Spannung. Inhaltlich erklären erst die Retrospektiven das Verhalten der Figuren in der Gegenwart.

So stark Wahl die weibliche Protagonistin zeichnet, so sehr drängt sich bei der männlichen Figur, Viktor, das Klischee des unnahbaren, gutaussehenden Manns auf, dessen "leuchtenden Augen" und "raue[r] Stimme" (S. 65) die Protagonistin ungewollt verfällt. Überblendet wird die Figur zudem von der seines verstorbenen jüngeren Bruders, der demselben Typ Mann entspricht. Auch wenn die Figur Tilda immer wieder betont, es handele sich nicht um eine Liebesgeschichte, ist es nicht nur für die jüngere Schwester, sondern auch für die Leser*innen offensichtlich, dass es sich hier doch eindeutig um eine Liebesgeschichte handelt. Wahl entgeht dem Kitsch jedoch, indem sie die Beziehung der Schwestern, die prekären Verhältnisse und damit die Frage nach der Verantwortung für die jüngere Schwester ins Zentrum der Erzählung rückt.

Wahl arbeitet nicht nur mit Überlagerungen und Spiegelfiguren, sondern auch mit Symbolen und Motiven, vor allem mit dem Sehnsuchtsmotiv Meer, wie sie auch in einem Interview mit dem NDR betont2. Das Meer als Urlaubsort wird zum Sehnsuchtsort für ihre Figuren, weil es für Tilda, ebenso wie das gemeinsame Abendessen, eine intakte Familie symbolisiert. Das Meer wird zur Familienidylle und steht für all das, was Tilda und Ida entbehren müssen. Am Tag des Unfalltodes ihres Freundes Ivan verspricht sich Tilda, dass sie mit Ida zum Meer fahren wird, irgendwann. Die Metapher vom Meer wird später zur Allegorie ausgebaut: Viktor wird zum Seemann, sein Auto zum Schiff (vgl. S. 194), das an einen anderen Ort, in eine ferne, hoffnungsvolle Zukunft führt.

Wahl verwebt nicht nur beide Erzählstränge gekonnt miteinander, sie erzählt auch Tildas Dilemma überzeugend, die zwischen Hass und Wut auf das "Monster" (S. 78), in das sich die alkoholisierte Mutter verwandelt, und der Liebe zur Mutter wechselt. Der sachliche Erzählstil, der Gefühle häufig distanziert beschreibt, teilweise auch benennt, der Ereignisse eher nüchtern aufzählt als reich ausgestaltet, ist nicht nur erfrischend zu lesen, sondern dient auch der Figurencharakterisierung Tildas als konsequente, harte Kämpferin und als verantwortungsvolle Person, die erstaunlicherweise nur selten unter ihren Gefühlen und der Last der Verantwortung zusammenbricht. Die Lektüre regt darüber hinaus dazu an, über eigene Privilegien und soziale Missstände nachzudenken.

Fazit

22 Bahnen überzeugt durch einen nüchtern-sachlichen und leichten Erzählstil, der auch schwere Inhalte nicht ausspart. Die individualisierten, sympathischen Figuren, die Spannung erzeugende Verwebung verschiedener Erzählebenen und eine Story, die mehr als nur eine Liebesgeschichte ist, machen diesen Roman zu einem interessanten Coming-of-Age-Leseabenteuer, das durch das offene Ende weiterdenken lässt. Durch die vielen weiblichen Figuren, allen voran die starke Protagonistin, ist 22 Bahnen eine ideale Sommerlektüre für (weibliche) Leser*innen ab 16 Jahren.

 

1 Vgl. die Internetseite des Arbeitskreises für Jugendliteratur (Abruf: 04.03.2025)

2 Caroline Wahl sagt in einer Reportage: „Ich glaube, dass das Meer eine viel größere Rolle in meinem Roman spielt, als man vielleicht zunächst denkt, weil es ja nicht als Schauplatz oder Ort vorkommt.“ (vgl. NDR Kulturjournal am 08. Mai 2023, Abruf: 04.03.2025)

Titel: 22 Bahnen
Autor/-in:
  • Name: Caroline Wahl
Erscheinungsort: Köln
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: DuMont
ISBN-13: 978-3-8321-6803-2
Seitenzahl: 208
Preis: 24
Altersempfehlung Redaktion: 16 Jahre
Buchcover Caroline Wahl 22 Bahnen