Inhalt
Die Studentin Ida bricht nach dem Selbstmord ihrer Mutter, für den sie sich verantwortlich fühlt, fluchtartig und planlos auf. Sie kappt dazu alle Verbindungen zu ihrer Schwester und Freundin ("Flugmodus", S. 35), um sich zu beweisen, dass sie allein zurechtkommt: "Ich brauche keine Hilfe" (S. 134). Sie strandet auf der Insel Rügen, wo sie mit sich selbst, ihren Schuldgefühlen ("ich bin eine schlechte und schwache Scheißtochter", S. 41) sowie stellvertretend mit den Wellen der Ostsee kämpft. Mehrmals begibt sie sich in Lebensgefahr, indem sie weit ins offene, oft stürmische Meer hinausschwimmt. "[W]ie ein abgestürzter, verletzter Spatz" (S. 136) wird sie nach einem Zusammenbruch von einem älteren Ehepaar auf Rügen aufgenommen, das ihr Halt, Geborgenheit und Wärme gibt, und zu ihrer (Ersatz-)Familie wird. Neben Marianne und Knut tritt auch ein junger Mann, namens Leif, in Idas Leben, in den sie sich verliebt. Für diese drei Menschen will Ida leben und weiterkämpfen. In der Gegenwart und mit der Unterstützung dieser Menschen beginnt sie damit, ihr Trauma aufzuarbeiten, indem sie ihre Gedanken zu kommunizieren lernt. Als aber dann Marianne lebensbedrohlich erkrankt, bricht für Ida das zweite Mal ihre ohnehin fragile Welt zusammen. Ein Tornado aus Gedanken bzw. ein Sturm mit Windstärke 17 (vgl. S. 220) ergreift von Ida Besitz, als sie von der Erkrankung erfährt. Ebenso verhält es sich, sobald sie sich mit dem traumatischen Tod ihrer Mutter auseinandersetzt (vgl. S. 249).
Kritik
Wie schon im Debütroman erzählt Wahl Windstärke 17 überzeugend und konsequent aus der Perspektive ihrer Protagonistin. Wahl gelingt es in ihrem zweiten Roman noch besser, ihrer Protagonistin trotz der drastischen Geschichte eine sympathische und teils komische Stimme zu verleihen. Ida ist eine trotzig-naive, eigenwillige und eigentlich sehr verletzte Figur, die sich durch ihren Erzählstil charakterisiert:
Aber dann fragt mich Marianne ganz unvorbereitet zwischen der 16.000 – und 32.000-Euro-Frage: ,Kam der Tod deiner Mutter eigentlich unerwartet?‘, als wäre sie Günther Jauch. Ich warte auf die Antwortmöglichkeiten a) Ja, b) Nein, c) Jein, die nicht kommen, auch wenn ich weiß, dass b) die richtige Antwort ist. Klassische 50-Euro-Frage, wobei d) fehlt und die Frage vermutlich auch zu subjektiv für Wer wird Millionär? wäre. (S. 95)
Übertreibungen, Synekdochen, Metaphern und Ironie ("'Okay', sage ich mit keinen Tränen in den Augen", S. 64) sorgen für eine unterhaltsame Lektüre mit Tiefgang. Denn die Selbstmordgedanken der Protagonistin, ihre Schuldzuweisungen, ihre Orientierungslosigkeit und Verzweiflung, ihre selbstverletzenden Handlungen sind kein heiterer Stoff. Schmerz und Verlustangst drückt Wahl eindrucksvoll in drastischen Metaphern aus: "Hier drinnen ist es mir zu laut, zu gefährlich, die Gedanken zerschneiden mein Inneres messerscharf zu ungleich großen Gulaschklumpen. Aber ich kann nicht rausgehen. Ich kann nicht aufstehen." (S. 202) Auch literaturhistorischer Motivzitate bedient sich Wahl, z.B. dem des Tods als Liebhaber, der an Mariannes Seite beim Frühstück sitzt: "Er sitzt neben Marianne, die heute eigentlich ganz munter wirkt und trotz flauem Magen ihr Laugenbrötchen liebevoll mit Butter, Ei und Salz belegt, schlingt den Arm ganz eklig um sie, wie ein schmieriger, notgeiler Typ, und ich würde am liebsten ein Messer auf ihn werfen." (S. 216)
Wahl gelingt es gut zwischen Nähe und Distanz zur Figur zu changieren. Einerseits führt sie die Rezipierenden ganz nah an die Figur heran, indem sie das ihr eigene Stilmittel der Satzdoppelung nutzt, um die Lesenden scheinbar direkt am Gedankenprozess der Protagonistin zu beteiligen: "Marianne: Ich bereite jetzt die Suppe zu. Ich: Kann ich helfen? Marianne: Klar. Tilda hat früher auch immer Hühnersuppe gemacht, wenn ich krank war. Ich: Tilda hat früher auch immer Hühnersuppe gemacht, wenn ich krank war." (S. 52f.) Andererseits distanziert sie die Figur und die Rezipierenden von den Gefühlen, die abgespalten vom Ich, dem Körper zugeordnet werden: "Wir schwimmen ins offene Meer, ich tauche so tief, bis es wehtut, und meine, beim tiefsten Punkt kurz seine [Leifs] Hand über mein Bein streichen zu spüren, ärgere mich über meinen Körper, der umgehend eine neue Berührung will, die nicht kommt" (S. 121).
Die Figuren und die Welt sind aus 22 Bahnen bekannt. Ebenso ähnelt die Liebesgeschichte, die sich zwischen der Protagonistin und einem klischeehaft gutaussehenden, verschwiegenen Mann mit unbekannter, dunkler Vergangenheit, entwickelt, sehr dem Schema des Vorgängerromans. Auch das offene Ende mit durchaus hoffnungsvollen Zügen erinnert an 22 Bahnen. Wahl hat jedoch nicht nur die Welt und ihre Figuren im Vergleich zum Debütroman weiterentwickelt, auch ihr Erzählstil wird sicherer, ihre Figuren konturierter. Mit Ida erschafft Wahl eine junge, verletzte Adoleszente, deren Gedanken man gerne lauscht und deren metaphernreicher, bisweilen drastischer Ausdruck sowie ihr Blick auf die Welt die Lektüre zu einem kurzweiligen Vergnügen machen.
Fazit
Eine Coming-of-Age-Story, in der sich die Protagonistin von ihrer älteren Schwester emanzipiert, indem sie ihren eigenen Weg und Ort findet, und auch das Trauma des Selbstmords der Mutter verarbeitet. Nicht nur wegen des komisch-distanzierten, bisweilen metaphernreichen Sprachstils, sondern auch wegen der Thematisierung von Ängsten und Traumata, Schuldgefühlen und Selbstmordgedanken ist der Roman für (vor allem weibliche) Lesende ab 16 Jahren durchaus empfehlenswert. Er lädt dazu ein, sich einmal in die Abgründe und Probleme anderer Figuren fallen zu lassen.
- Name: Caroline Wahl
