Inhalt
Die Schülerin Nina bekommt die Möglichkeit, ein 6-wöchiges Praktikum in Leipzig zu absolvieren. Voller Tatendrang und 'roßstadthunger'beginnt sie ihr Leben in der Großstadt. Die ersten Abnabelungsprozesse aus dem schützenden Familienclan gelingen, als sie sich selbstständig ein Zimmer sucht und bei ihrer Tante auszieht. Nina landet in einer Villa, die sie nun zusammen bewohnen wird mit Claire, Benjamin und Stefan sowie ihrem fast gleichaltrigen Vermieter Julius. Nina ist begeistert: Ihr neues Zimmer weckt sofort ihre Abenteuerlust und sie zieht sofort am gleichen Tag ein. Auch ihr komisches Bauchgefühl kann sie nicht von dem Umzug abhalten.
Doch schon bald häufen sich merkwürdige Vorfälle: Während es bei ihrem Praktikum richtig gut läuft und sie auf Lars trifft, in den sie sich verliebt, stellt sich Nina in ihrer neuer Bleibe das Gefühl ein, beobachtet zu werden. Außerdem findet sie plötzlich neben roten Blüten und Schokolade auf ihrem Kopfkissen auch japanische Gedichte, sogenannte Haikus, vor. Nina wird mulmig, sie will sich aber nicht vertreiben lassen und trotzt der Situation auch dann noch, als sie ihren Gecko Billy mit aufgeschlitztem Bauch in einem Ameisenhaufen in der Nähe ihrer Terrassentür findet. Dann geschieht das Unfassbare: Nach einer Party, die Julius gegeben hat, wird Stefans Freundin Lauren tot im Flur gefunden. Und Nina, die vorher schon versucht hat, dem merkwürdigen Verhalten ihrer Mitbewohner auf den Grund zu gehen, stellt weiter Fragen. Schließlich geben alle Mitbewohner ihre Geheimnisse preis: Julian war aufgrund seiner Tablettensucht in der Rehabilitation und ist nun clean, Benjamin outet sich als homosexuell und Stefan hat mit Lauren Schluss gemacht genau an dem Abend, bevor man Lauren tot gefunden hat. Die größte Überraschung erlebt Nina aber mit Claire. Sie entpuppt sich als Schlüsselfigur im Knoten des Geschehens: Sie war in Stefan verliebt und konnte es nicht ertragen, dass er Lauren Claire vorgezogen hat. Und auch die Tatsache, dass ihre Bemühungen, Stefan zurückzuerobern, nicht erfolgreich verlaufen sind und dass er nach Laurens Tod Nina seine Liebe gestanden hat und sich nicht zu Claire hingezogen gefühlt hat, hat dazu beigetragen, dass Claire auch Nina umbringen will. Claires Vorfeld mehrfach erwähnte Unfähigkeit, mit Ablehnung umgehen zu können, wird Nina fast zum Verhängnis: Nina ist in Claires Augen der Grund dafür, dass Stefan sie ablehnt. Claire drängt Nina Drinks auf, die mit Schlaftabletten und Moxycotron, einem Schmerzmittel, versetzt sind, um sie zu töten, so wie sie auch Lauren umgebracht hat. Doch Nina wird von Benjamin gefunden und im Krankenhaus gerettet.
Kritik
Rylance entwirft mit Villa des Schweigens einen spannenden, auch sprachlich überzeugenden Thriller, der durch das gewählte Szenario – ein Praktikum in eine anderen Stadt und die damit verbundene Wohnungssuche – authentisch die Welt des Lesers widerspiegelt. Die Protagonistin des Romans, die als autodiegetische Erzählerin etabliert wird, ist so konzipiert, dass sich ein Leser mit ihr identifizieren und ihre Gefühle nachempfinden kann. Die ersten Abnabelungsprozesse von der Familie, die Nina hier vollzieht, werden glaubhaft geschildert und mit dem Gefühl von Abenteuer verknüpft, das Nina befällt, als sie selbst ihr 'eues'Leben meistern will – auch wenn sie dabei u.U. dem Klischee des naiven Teenagers entspricht. Dass sie dabei mit Problemen konfrontiert wird und sich ihnen stellt mit der Gewissheit, die Eltern oder den (potentiellen) neuen Freund anrufen zu können, zeigt die eigentlich sichere familiäre Situation auf, in der sich Nina befindet und in die sie immer wieder zurückkehren kann. Im Gegensatz dazu werden die Familienstrukturen ihrer neuen Mitbewohner als weniger harmonisch, wenn nicht sogar als problematisch geschildert: Julius hat unter der Übermacht seines Vaters, einem stadtbekannten Richter, zu leiden, Claire musste von zu Hause ausziehen, weil sie aus Wut über die Ablehnung an einer Hochschule in Weimar ihrem Vater die Schuld gegeben und eine seiner kostbaren antiken Vasen zerbrochen hat und Stefans Eltern scheinen ihren Sohn auch nicht wieder bei sich haben zu wollen: Die Mutter hat Stefans Zimmer als Büro umfunktioniert und der Vater ist ständig auf Dienstreisen. Lediglich Benjamins familiären Beziehungen werden nicht näher genannt. Demgegenüber scheint Lars, den Nina in der Anwaltskanzlei kennenlernt, als er mit seiner Oma rechtlichen Beistand sucht, in einem sicheren familiären Netz aufgehoben zu sein: Er feiert mit seinen Eltern und seinem Bruder eine Geburtstagsparty und bietet Nina schließlich an, dass sie bei seiner Oma wohnen kann. Mit diesen z.T. zerrütteten Familienstrukturen im Hintergrund werden aus den dargestellten Akteuren Persönlichkeiten, deren Handlungen der Leser nachvollziehen kann – auch wenn es abscheuliche Taten sind. Rylance gelingt es so, einerseits die Psychospielchen, denen Nina ausgesetzt ist, andererseits auch die sich daraus ergebenden Unsicherheiten, die Nina empfindet, glaubhaft wirken zu lassen.
Der von Rylance entworfene Spannungsbogen überzeugt durch plötzliche Wendungen und eine überraschende Täterin, der man ihre mangelnde Fähigkeit, mit Ablehnung umzugehen, zunächst gar nicht anmerkt und die erst im Laufe der Handlung langsam ihre Maske fallen lässt. Die Handlung gewinnt zusätzlich Spannung durch eingeschobene, kursiv gesetzte und im Präsens formulierten Gedanken der noch unbekannten Täterin, deren Gedanken aber die Abgründe der menschlichen Psyche aufblitzen lassen. Dass es am Ende ausgerechnet der zufällig zurückkehrende Benjamin ist, der sein Hemd wechseln will und die fast leblose Nina findet und ihr so das Leben rettet, mag konstruiert erscheinen, macht es der Autorin aber leichter, der Protagonistin ein Happy End zu ermöglichen: Nach der bestandenen Prüfung – um mit einer der Christopher Vogler'schen Stationen der Heldenreise zu argumentieren – kann die Heldin gestärkt in ihre gewohnte Welt zurückkehren, wo sie ihr Leben wieder aufnehmen wird.
Fazit
Ulrike Rylance gelingt mit Villa des Schweigens ein auf inhaltlicher und sprachlicher Ebene überzeugender Thriller für Jugendliche, der einen Blick in die Abgründe verletzter menschlicher Seelen bietet, die sich im Wahn verlieren und zu unvorstellbaren Taten fähig sind. Dass sich die Täterin erst am Ende 'outet' und so der Spannungsbogen konsequent aufrechterhalten wird, schafft den Anreiz, das Buch 'in einem Rutsch' zu lesen. Alles in allem ein spannendes Buch für alle, die mit einer sich gerade dem Leben stellenden Protagonistin mitfiebern möchten und ihr – natürlich – ein Happy End wünschen.
- Name: Rylance, Ulrike