Inhalt

Ein verwunschenes, blaues Häuschen, "überwuchert von Kletterpflanzen mit blauvioletten Blüten" (S. 15), fernab der Zivilisation, inmitten der Natur – das nächste Dorf weit entfernt. Das ist das Blaubeerhaus, Zentrum des Kinderromans der preisgekrönten Autorin Antonia Michaelis, die durch spannende Kinderbuchreihen wie Kreuzberg 007 oder Jugendromane wie Der Märchenerzähler bekannt geworden ist. Ausgangspunkt der Handlung: Das Blaubeerhaus wurde von einer entfernt verwandten Tante an zwei Familien vererbt: Da ist einmal die Familie von Leo aus Berlin mit seinem älteren Bruder Luke und dem einjährigen Bruder Mattis. Der Vater wird aufgrund seiner Körpergröße von seinen Söhnen "der Riese" genannt, die Mutter Betti ist die Schwester von Ben, der wiederum mit seinen drei Töchtern in Hamburg lebt. Dies ist die Familie von Imke und den vierjährigen Zwillingsmädchen Juni und Juli. Und dann ist da noch die esoterische Tante Fee, Bettis und Bens Schwester, die keine Kinder hat, sondern "irgendwo zwischen Heilsteinen und energetisiertem Wasser pendelt". Ich-Erzähler der Geschichte sind Leo und Imke, die beide 10 Jahre alt sind, aber sonst kaum etwas gemeinsam zu haben scheinen, außer, dass sie zunächst alles andere als begeistert vom Urlaub im Blaubeerhaus sind, zumal es dort noch nicht einmal Strom gibt. Die Familien haben sich in den letzten Jahren entfremdet, wollen in diesen Ferien zueinander finden, indem sie das geerbte Waldhäuschen gemeinsam renovieren. Derweil stromern die Kinder, erst skeptisch, dann zunehmend eingenommener von den Naturerlebnissen, durch den Wald und kommen einander schnell näher. Allein die Abenteuerlust verbindet sie, denn schon nach kurzer Zeit haben Leo und Imke den Eindruck, es spuke im Blaubeerhaus. Mit vereinter Kraft machen sie sich auf die Suche, finden letztlich keinen Geist, dafür aber das Tagebuch der verstorbenen Tante Lene, die im Dorf als schrullig und seltsam galt. Die Tagebucheinträge verweisen auf ein zentrales Kapitel deutscher Geschichte: Hier enthüllt sich die Vergangenheit, als zu NS-Zeiten Juden im Blaubeerhaus versteckt waren. Aber auch in der Erzählgegenwart versteckt sich jemand im Haus...

Kritik

Geschickt verbindet Antonia Michaelis in diesem Kinderroman spannende Elemente einer Abenteuererzählung mit der zeitgeschichtlichen Thematik. Dabei dominieren vor allem die wortgewaltigen, poetischen Schilderungen der Natur, die deutlich an das romantische Bild vom wilden Kind in der freien Natur anknüpfen und in ihrer Art der Idyllisierung von Kindheit im Einklang mit der Natur an Astrid Lindgren erinnern. Dabei bedient sie sich einer außergewöhnlichen Sprache, wie die Autorin sie bereits in ihren Jugendbüchern wie Der Märchenerzähler und Solange die Nachtigall singt kunstvoll präsentiert hat. Das gilt sowohl für die Tagebucheinträge Lenes, die von der Vergangenheit und einem dunklen Kapitel deutscher Geschichte erzählen, als auch die in der Gegenwart angesiedelte Schilderung der Handlung, die in variabler interner Fokalisierung regelmäßig abwechselnd von Leo und Imke erzählt wird. Lene reflektiert im Tagebuch nicht nur die historisch brisante Situation, sondern gleichsam Klang und Bedeutung von Sprache und Worten: 

Heute habe ich Avi mein Himbeerlabyrinth gezeigt. Ich finde allein das Wort schön: Himbeerlabyrinth. Auch wenn es wirklich schwer zu schreiben ist. Es ist übrigens genauso schwer, sich darin zurechtzufinden. Die Dachse haben es mir gezeigt, schon vor Jahren, da bin ich ihnen nachgegangen. Es beginnt in der Nähe ihres Baus mit einer Kette aus einzelnen Himbeersträuchern, die Kette einer Königin. Und wenn man dieser Kette folgt, einer Kette voller leuchtend roter und grüner Juwelen, dann kommt man zu einer Gegend, wo es noch mehr Himbeeren gibt: zur Schatzkammer der Königin. (S. 88-89) 

Und Imke entdeckt kurz nach der Ankunft im Blaubeerhaus "einen kleinen Bach voller funkelnder Lichtreflexe", "die goldenen Augen eines Frosches zwischen den Stielen" der gelben Lilien und dann "einen Fisch, der in dem klaren Wasser still stand und nur ab und zu mit der Schwanzflosse wedelte" (S. 39) – und auch: "winzige Wasserläufer, die am Rand des Bachs über die Wasseroberfläche staksten." (ebd.)

Mit dieser Poetik entfaltet sich ein kindliches Abenteuer in der freien Natur, meistens gekennzeichnet durch das klassische kinderliterarische Motiv der Elternferne, da die erwachsenen Figuren im Hintergrund der Handlung agieren. Tauchen sie auf, etablieren sie sich als liebevolle, den Kindern zugewandte Gesprächspartner, wie man es ebenfalls aus den Buchfamilien von Astrid Lindgren kennt. Damit korrespondiert auch ein (vielleicht ein wenig zu) stark idealisiertes Kindheitsbild. Ein wenig hebt sich davon aber die Konzeption der Tante Fee ab, die durch stereotype Klischees über esoterische Menschen getragen ist. Sie meditiert dauernd und sucht Wasseradern. Da es sich hier um eine Randfigur handelt, fällt diese klischierte Darstellung jedoch nicht allzu stark negativ ins Gewicht.

Die gekonnte Kombination aus historischen Handlungselementen und Abenteuermotiven in der freien Wildbahn machen Das Blaubeerhaus zu einem spannenden Lesevergnügen, dem aufgrund der poetischen Sprache eine hohe literarästhetische Qualität zugesprochen werden kann. Wegen der Dicke von 349 Seiten eignet es sich vielleicht eher zum Vor- als zum Selberlesen.

Fazit

Ein sprachlich besonderer Kinderroman in der Tradition Astrid Lindgrens für Leserinnen und Leser ab 10 Jahren, voller romantischer Naturschilderungen, der sowohl eine spannende Abenteuerstruktur aufweist als auch ein Stück Zeitgeschichte vermittelt, ohne dabei zu moralisieren. Einmal mehr zeigt sich, dass mit Antonia Michaelis eine außergewöhnliche Stimme in der zeitgenössischen Kinderliteratur spricht. 

Titel: Das Blaubeerhaus
Autor/-in:
  • Name: Michaelis, Antonia
Illustrator/-in:
  • Name: Claudia Carls
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2015
Verlag: Oetinger
ISBN-13: 978-3-7891-4300-7
Seitenzahl: 349
Preis: 15,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 10 Jahre
Michaelis, Antonia: Das Blaubeerhaus