Kennerinnen und Kenner des Kinderromans Entführung mit Jagdleopard (2015) wissen es gleich: Bei der echten Milliardärstochter kann es sich nur um Fee aus der Hamburger Villa handeln, die Jamie-Lee vor dem Supermarkt aufgelesen hatte. Und so ist es dann auch. Erneut treffen die Kinder aus unterschiedlichen Milieus aufeinander, deren Lebenswelten nicht divergierender sein könnten, und sind erneut in einen spannenden Kriminalfall verwickelt, welcher den dominanten Handlungsstrang ausmacht. Und diesmal sind sie nicht allein. Zur Seite gestellt sind ihnen Valentin und Mesut, die Boie-Fans aus dem Friedhofskrimi Der Junge, der Gedanken lesen konnte (2012) wohl bekannt sein dürften. Dass sie alle in einer Hamburger Hochhaussiedlung wohnen, war bisher allerdings noch kein Thema, ist aber in der erzählerischen Anlage durchaus stimmig. Gemeinsam werden Jamie-Lee, ihr großer Bruder Baron Chuck, kurz Chucky, und Valentin und Mesut in einen brisanten Kriminalfall verwickelt und gründen eine Detektivbande. In der Villa Ransmeier, die Fees Eltern gehört, wurde nämlich eingebrochen! Die Ermittlungen lassen sie auf einen abgehalfterten Popstar Baron Rockety stoßen, den Chucky wegen der Namensgleichheit „Baron“ für seinen Vater hält, wozu man wissen muss, dass Chucky "dieses Vaterding" (S. 74) hat und ständig Männer für seinen Vater hält, obwohl seine Mutter keine Ahnung hat, wer sein oder der Vater der jüngeren Jamie-Lee sein könnte. Diese hält sich im Übrigen eisern an ihren Alkoholentzug, den sie in Entführung mit Jagdleopard begonnen hatte und ist dankbar, als sie sich Valentins geerbten Hund Jiffel zum Spazierengehen ausleihen kann. Auf diesen Gängen lernt sie Marcel mit seinem Dobermann Schatzi kennen, welche zum Ende hin eine tragende Rolle spielen, als die Kinder von den in die Enge getriebenen Einbrechern in eine Dixie-Toilette gesperrt werden. Bis es zu diesem fulminanten Showdown kommt, erleben die Kinder ein Abenteuer nach dem nächsten. Sie verstecken Rockety, der unter polizeilichen Verdacht geraten ist, in der Gartenlaube von Valentins Friedhofs-Bekanntschaft Frau Schilinsky, was allerdings strengster Geheimhaltung bedarf. Darum fährt Chucky (freilich minderjährig und ohne Führerschein) Rocketys Auto zum Flughafen, um vorzutäuschen, dass er das Land verlassen hätte. Derweil decken sie die wahren Einbrecher auf und geraten in Lebensgefahr. Ein Glück nur, dass Jamie-Lees und Chuckys Mutter nicht mehr nur betrunken auf dem Sofa liegt, sondern die Abwesenheit ihrer Kinder bemerkt...
Kritik
Man mag Kirsten Boie Klischeehaftigkeit in ihrer krassen Milieubeschreibung der Lebensverhältnisse von Jamie-Lee und ihrem Bruder Chucky vorwerfen – oder aber sie für eine schonungslose Darstellung von Realitäten halten. Fest steht, dass die Handlung in ihrer Spannungsstruktur und die Figuren in ihren Konzeptionen kongenial funktionieren. Dasselbe gilt für den kinderliterarisch herausragenden Kunstgriff, Figuren aus zwei unterschiedlichen Romanen aufeinandertreffen zu lassen und die Handlungsstränge der Texte gekonnt miteinander zu verschränken. Schon allein das ist ein echtes Novum. Die hier neu figurierte Kriminalerzählung ist doppelt perspektiviert bzw. fokalisiert: Kapitelweise wechseln sich Valentin und Jamie-Lee als Ich-Erzähler*innen ab und gewähren so Einblick in ihre jeweiligen Sichtweisen und lassen die dynamische Handlung schnell an Fahrt aufnehmen. Dabei dominiert in beiden Darstellungen eine Tragikomik, die den Roman in die Tradition des tragikomischen Familienromans einschreiben, an dessen Ausbildung Kirsten Boie von den 1980er Jahren an maßgeblich beteiligt war. Von daher verwundert es nicht, dass Boie hier erneut ein kinderliterarisches Meisterstück vorlegt, das sich auch durch intertextuelle Referenzen auszeichnet, wenn der begeisterte Vielleser Valentin bei der Lösung des Kriminalfalls Parallelen zu Steinhöfels Rico, Oskar und die Tieferschatten sieht:
"Dabei hätte ich mich wirklich gerne auf den Balkon gesetzt und das Buch über diesen Rico weitergelesen, der ist tiefbegabt, und Oskar, der ist schlau für drei. Also quasi das Superhirn, das man zur Aufklärung von Kriminalfällen braucht.“" (S. 118)
Nützt nichts, Valentin muss mit Hund Jiffel raus, aber auch damit schreibt er sich ein in intertextuell inspirierte Traditionen (Rico bekommt ja auch Porsche!), was für Jamie-Lee freilich völlig unverständlich ist. Weil der ehemalige Rockstar Rockety, von dem offenbar ihre und Fees Mutter als Jugendliche Fan waren und er ein One-Hit-Wonder landete, seine Autobiographie vorstellt, betritt sie das erste Mal in ihrem Leben eine Buchhandlung und wundert sich, dass es Menschen gibt, die Bücher lesen. Kirsten Boie lässt nicht nach: Immer noch schafft sie es, aktuelle Kindheit zu beobachten und literarisch zu spiegeln – wenn sie mit Klischees und Stereotypen operiert, dann dient es doch der überbordenden Komik, die den Text trägt (so war es ja schon 1990 bei Nella-Propella) und eben auch erwachsene Leserinnen und Leser mit ins Boot holt.
Fazit
Eine meisterhafte Fortsetzung zweier starker Kinderromane, deren Handlungen hier kongenial miteinander verbunden werden, vorgetragen im typischen Kirsten Boie-Ton, nah an ihren kindlichen Figuren und deren Mündlichkeit, spannend, komisch und einnehmend von der ersten bis zur letzten Seite! Eine starke Empfehlung sowohl für Kinder ab 10 Jahren als auch für Erwachsene; für Kirsten Boie-Fans und denen, die wissen wollen, wie es mit Valentin und Mesut aus Der Junge, der Gedanken lesen konnte und Jamie-Lee und Fee aus Entführung mit Jagdleopard weitergeht, eh ein Muss!
- Name: Boie, Kirsten