Inhalt

Protagonist und Ich-Erzähler Archie hat es nicht leicht. Seit der Trennung seiner Eltern hat die Mutter schwere Depressionen und kommt kaum noch aus dem Bett. Sein Vater hat eine neue Familie gegründet, in der kein Platz für Archie ist. Dabei liebt er seine Halbschwester Scadge aus vollem Herzen, was auf Gegenseitigkeit beruht. Doch der Vater und seine neue Frau Julie lehnen Archie ab und verweigern ihm einen Platz in der Familie, sagen Verabredungen immer wieder ab. So bleiben Archie nur seine beste Freundin Maus, mit der er durch Dick und Dünn geht und eine helfende Nachbarin, der im Laufe der Handlung fortlaufend klarer wird, in welch prekärer Situation sich der Junge befindet. Doch zentrale Hilfe kommt zunächst von ganz anderer, phantastisch konnotierter Seite. Archie ist ein großer Fußballfan und verehrt vor allem den Spieler Lucas Bailey. Als der eines Tages vor Archie steht, nachdem er einen Fahrradunfall hatte, ist die Fassungslosigkeit groß. Erst recht, als Lucas Bailey dem verwirrten Archie verkündet, er hätte von nun an neun Wünsche frei, was er mit den Worten begründet:

Weißt du, Archie, manchmal brauchen Menschen einfach ein wenig Glück, um zu sehen, was alles möglich ist. Damit sie ein bisschen Hoffnung bekommen und die Kraft, um an ihrer Situation etwas zu ändern. (S. 36)

Diese Kraft und Hoffnung zieht Archie nun aus den Wünschen, die zunächst ein heilloses Chaos anrichten. Denn wie schwer das korrekte und genaue Wünschen ist, wissen wir spätestens seit den Fehlern, die Herr Taschenbier in Paul Maars Sams anrichtete. Archie tut sich damit ähnlich schwer wie dieser. Doch während sich bei Maars kinderliterarischen Klassikern eine freie, überbordende Komik durch das ungenaue Wünschen entfaltet, geht es bei Archie um mehr, nämlich , wie der Fußballspieler es angekündigt hatte, darum, die Kraft zu finden, an seiner Situation etwas zu ändern. Und er merkt schnell, dass das nicht über den Wunsch nach einer großen Menge an Aufklebern, die er sammelt, zu erreichen ist. Schlussendlich findet Archie durch die Wünsche den Weg zu dem, worauf es wirklich ankommt. Nach einem Streit mit Maus erkennt er, wie wichtig ihre Freundschaft ist. Und er überwindet die Schweigebarriere, welche die Mutter ihm aus Scham auferlegt hat, und schafft es, sich sowohl der Nachbarin als auch dem Vater gegenüber zu öffnen und um Hilfe zu bitten.

Kritik

Die Besonderheit an Helen Rutters Kinderroman ist der gelungene Kunstgriff der Ebenenvermischung von Phantastik und Realistik. Das ist neu und außergewöhnlich im Bereich der armutsthematisierenden Kinderliteratur, in der Kinder aus prekären Verhältnissen im Zentrum stehen. Archie ist ein emotional vernachlässigtes Kind, jedoch nicht unbedingt ein in materieller Hinsicht armes Kind, denn immerhin zahlt sein Vater den Unterhalt. Doch die Rollen haben sich verkehrt. Archie kümmert sich um seine Mutter, sie sich aber nicht um ihn. Woher er die Kraft und den Mut zur Veränderung nimmt, bleibt schlussendlich offen. Die Leser*innen wissen nicht, ob Archie sich die Wünsche nur eingebildet hat oder nicht. Der Protagonist selbst erklärt seiner Freundin Maus und damit auch den Rezipient*innen zum Schluss, dass das gar nicht so wichtig sei:

Ich glaube, mir ist klar geworden, dass es keine Rolle spielt. Die Dinge sind so oder so passiert, egal ob es nun daran lag, dass ich plötzlich an Magie geglaubt habe oder ein bisschen mehr an mich selbst. Das alles hat mich auf jeden Fall zu einem besseren Menschen gemacht. (S. 267)

Fakt ist, dass dieser erzählerische Kniff die eigentlich traurige Geschichte zu einer rasant spannenden Story avancieren lässt, in der sich der psychologisch stimmige Blick ins Innere des Protagonisten mit äußerer Handlungsdynamik verbindet. Die Botschaft dieses eindrucksvoll und sensibel erzählten Kinderromans lässt sich mit einem Wort fassen: Hoffnung! Der Ich-Erzähler selbst erläutert:

Es ist schwer, ein guter Mensch zu sein, wenn man keine Hoffnung hat. Ich glaube, ohne Hoffnung ist es schwer, irgendetwas zu sein. Dann endet man wie Mum im Bett. (ebd.)

Diese Botschaft gleitet in keiner Weise in bloße Plattitüde ab. Zu sensibel ist die gesamte narrative Anlage, zu feinfühlig sind die Figuren konzipiert. Dies korrespondiert mit den treffsicheren Formulierungen, welche Rutter die kindliche Erzählinstanz und manchmal auch Fußballer Lucas Bailey finden lässt. Das spiegeln die genannten Zitate über die Hoffnung ebenso wie Archies Reflexionen, beispielsweise, wenn er bei der Beschreibung der Depressionen seiner Mutter konstatiert, sie stehle Gefühle (S. 13).

Vor diesem Hintergrund hat der Kinderroman die Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Kinderbuch mehr als verdient. 

Fazit

Kinderromane mit Protagonisten aus prekären Verhältnissen gibt es viele – man denke nur an Steinhöfels Rico oder Marianne Kaurins Ina aus Irgendwo ist immer Süden, das bereits mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Ob das für Neun Wünsche für Archie auch gelten wird, wissen wir noch nicht. Verdient aber hätte dieser eindrucksvolle Kinderroman den Preis auf jeden Fall. Und diesem Urteil dürften sicherlich viele Leser*innen ab 10 Jahren zustimmen.

Titel: Neun Wünsche für Archie
Autor/-in:
  • Name: Rutter, Helen
Übersetzung:
  • Name: Silke Jellinghaus
Erscheinungsort: Zürich
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: Atrium Verlag
ISBN-13: 978-3-85535-685-0
Seitenzahl: 270
Preis: 17,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 10 Jahre
Rutter, Helen: Neun Wünsche für Archie