Inhalt

Zack zieht mit seiner Familie aufs Land, nach Vista Point, in eine abgelegene Kleinstadt. Dort wollen seine Eltern nach dem Tod der jüngsten Schwester Susan ein Bed and Breakfast-Hotel eröffnen. Zack gibt sich die Schuld an Susans Tod, denn er war dabei, als sie durch einen Unfall während eines Jahrmarktsbesuchs das Leben verlor. So zieht er sich – meist lesend – vor seiner Umwelt zurück, beginnt jedoch gleich nach dem Umzug, alleine in der Gegend herumzustromern. Im Wald trifft er auf das Mädchen Ann, das ihm seltsam vertraut erscheint, und das auf mysteriöse immer wieder plötzlich auftaucht und dann genauso schlagartig verschwindet. Gemeinsam mit Ann, an deren Existenz weder Zacks Eltern noch seine Geschwister so richtig glauben können, erkundet der Protagonist den titelgebenden geheimnisvollen Turm, der von einer Menge Rätseln umgeben ist. Dort entdecken sie eine kryptische Inschrift, die sie zu entziffern versuchen. Die ganze Umgebung wirkt wie ein abenteuerlicher Märchenwald voller Höhlen und versteckter Seen. Und dann taucht bei Zacks Eltern ein kauziger alter Mann namens Horatio auf, der behauptet, ihm gehöre das renovierungsbedürftige Haus der Familie und es sei verboten, dort ein Gewerbe zu eröffnen. Zacks Eltern wehren sich und ziehen vor Gericht. Doch die Leser*innen wissen: Eigentlich muss Zack die Sache lösen, denn hier vermischen sich phantastische und realistische Erzählebenen: Wer ist Ann und in welchem Verhältnis steht sie zu Horatio?

Kritik

Dieser Kinderroman steht der Winterhaus-Trilogie in seiner schillernden Erzählkraft in nichts nach: Packend und dicht ist die konstruierte Atmosphäre, witzig die Figurenkonzeption – und vor allem schafft der phantastisch konnotierte Text etwas ganz Besonderes: Er wirft einen außergewöhnlich sensiblen Blick auf das Thema Geschwistertod und erzählt authentisch von der Trauerarbeit der Familie, die sich auf die Gefühle des älteren Bruders und der Fokalfigur Zack zentriert. Diese Sensibilität speist sich aus der zwischen Realistik und Phantastik changierenden Handlung, die man schon aus den Winterhaus-Bänden kennt und die im Erzählton auch ein wenig an die Romane von Polly Horvarth erinnert (Marthas Boot). Es entfaltet sich eine dichte Atmosphäre aus Spannung und Magie, die aber allen Figuren Platz lässt für Trauer und Schuldgefühle, ohne dabei je ins Plakative abzugleiten. Witz und Komik resultieren (und auch das ist eine Parallele zum Winterhaus) unter anderem aus den metatextuellen Referenzen zu fiktiven Büchern: Wie Elizabeth in Winterhaus ist auch Zack ein Vielleser, der mit seiner neuen Wald- und- Turm-Freundin Ann die Begeisterung für Falken und Banditen teilt:

Der nächste Tag war heiß und zog sich zäh in die Länge. Zack verbrachte die meiste Zeit in seinem Zimmer und las Falken und Banditen zu Ende. Dann fing er die Fortsetzung an, Falkenheim, die er ebenfalls schon kannte. Er mochte die Falken und Banditen-Reihe, alle zwölf Bücher, hauptsächlich weil die Geschwister in den Geschichten so mutig und clever waren, aber auch weil sie bei ihren Abenteuern – Bootsfahrten, Zelten und Wandern – immer schrecklich viel Spaß hatten. Es ging ihm auf, dass er jetzt an einem Ort lebte, wo das, was die Kinder in den Büchern erlebten, auch für ihn möglich war. Und ihm entging auch nicht der Umstand, dass es in den Büchern zwei Brüder und drei Schwester (sic!) waren, genau wie ursprünglich in seiner Familie. (S. 49)

Hier zeigt sich die betonte Fabulierkunst Gutersons, die Alexandra Ernst großartig ins Deutsche übertragen hat, aber auch die Sensibilität im Umgang mit seinen Figuren, die in einem Setting zwischen Magie, Zauber und Trauer agieren und Halt in Büchern finden. Freilich ist das eine bildungsbürgerlich etablierte narrative Anlage, die Liebhaber*innen aus ebenso konnotierten Haushalten anspricht. Komik erzeugen ebenso die eingefügten Verse, die Guterson seinen Figuren in den Mund legt:

In Vista Point ist das Leben schön,

man kann den ganzen Tag spazieren gehen.

Die Gegend hier ist nach meinem Geschmack,

und jetzt kenne ich einen Jungen namens Zack! (S. 111)

Die magische-kunstvolle Wirkungsweise spiegelt sich in den Illustrationen von Lobke van Aar, sodass insgesamt ein hoch ästhetisches Lesererlebnis entsteht, das Kunst- und literaturaffine Kinder (und Erwachsene) abholt, aber darum auch für einen auf literarisches Lernen abzielenden Literaturunterricht geeignet ist.

Fazit 

Kunstvoll, ästhetisch, spannend, wunderbar! Guterson enttäuscht die Fans von Winterhaus mit diesem Nachfolger nicht, gibt Rätsel auf und entführt in eine dichte Atmosphäre, in der sich Magie, Komik und die sensible Auseinandersetzung mit Trauer die Hand geben. Empfehlenswert für Kinder ab 10 Jahren.

Titel: Die Einsteins und der geheimnisvolle Turm
Autor/-in:
  • Name: Guterson, Ben
Originalsprache: Englisch
Übersetzung:
  • Name: Alexandra Ernst
Illustrator/-in:
  • Name: Lobke van Aar
Erscheinungsort: Stuttgart
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: Freies Geistesleben
ISBN-13: 978-3-7725-2802-6
Seitenzahl: 285
Preis: 20,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 10 Jahre
Guterson, Ben: Die Einsteins und der geheimnisvolle Turm