Inhalt
Eigentlich könnte das Leben so wunderbar sein, für Else, das junge Mädchen. Sie verbringt mit ihrer besten Freundin die Sommerferien in einem Schlosshotel in den Bergen, die Mädchen verlieben sich in Paul, sie flirten, sie spielen, sie suchen nach dem Sinn des Lebens. Aber der Anschein des unbeschwerten und finanziell sorglosen Lebens trügt. Denn in Elses Elternhaus ist ständig dicke Luft. Ihr Vater, ein scheinbar angesehener Anwalt, führt als Spieler ein Doppelleben und verspielt nicht nur sein Geld, sondern auch das Familienleben. Wie ernst es um die Zukunft des Vaters steht, erfährt Else durch einen Brief, den sie von ihrer Mutter in die Urlaubsidylle erhält: Vater hat 30.000 € Schulden, die innerhalb von zwei Tagen zurückgezahlt werden müssen. Sonst droht Gefängnis. Und da ist, welch ein Zufall, der reiche Kunsthändler und alte Freund der Familie, Mr. Dorsday, im gleichen Hotel. Else möge ihn doch, so der Wunsch der Mutter, um die Geldsumme bitten. Else ist empört über diese Bitte, folgt aber ihrer Liebe zu den Eltern und wendet sich Dorsday zu. Der alte Herr willigt ein, unter der Bedingung, dass sich Else ihm nackt zeigt. Und sie tut es, legt das Hemd ab, der Missbrauch ist geschehen, scheinbar harmlos, im ersten Moment. Aber mit weitreichenden Folgen für Else. "Dorsday hat mich mit Worten in Stücke gehauen" (S. 40). Elses Leben ist ein anderes, ein Leben zwischen Schuld und Scham, Therapie und Verdrängung. Aus dem Traum vom Prinzessinnenleben folgt die harte Landung in der sexualisierten Männerwelt. Plötzlich steht alles in Frage – das Mädchensein, die Kleiderfrage, die Fußballfans in der Straßenbahn. Else steht vor einer dicken Wand, die sie einreißen muss. Die jahrhundertealten Wände des Hotels gehören eingerissen. Und sie sollen fallen.
Kritik
Eine der ersten Text- und Regiearbeiten von Carina Eberle war 2014 die Inszenierung Ein Fräulein wäre gerne Julie, eine Bearbeitung nach Motiven von August Strindbergs Fräulein Julie. Bereits in diesem Projekt, uraufgeführt vom Nachwuchsensemble der Jungen Theatergemeinde Köln, beschäftigte sich Eberle mit der Frage nach weiblicher Identität in einer männlich dominierten Gesellschaft. Diese Frage, ständig erweitert um die aktuellen Emanzipations-Debatten unserer Gesellschaft, steht im Mittelpunkt des Interesses der Theatermacherin Carina Sophie Eberle. In else (someone) spitzt die Autorin auf gekonnte Weise die Sichtweise einer jungen Frau auf ihr Mädchensein zu. Else möchte ihr Recht einlösen, schön sein zu dürfen, den Körper attraktiv einzukleiden, zu flirten, die Schmetterlinge im Bauch zu spüren. Sie stößt dabei aber auf eine Gesellschaft, in der sexuelle Belästigungen und verbale Grenzüberschreitungen stillschweigend hingenommen werden.
Ich wäre eh lieber ein Mensch, glaube ich.
Ich wache ja auch nicht morgens auf und rufe: Hurra! Ich bin ein Mädchen [...]
Als Mensch hätte man auf die Welt kommen sollen. (S. 34)
In der ersten Hälfte des Stückes wird das Thema mit spielerischer Leichtigkeit behandelt, fast wie im Kinderspiel. Umso größer ist dann die dramatische Fallhöhe nach dem Missbrauch durch Dorsday. "Es ist nicht passiert" (S. 40) versucht Else sich immer wieder von den Verletzungen an Körper und Seele frei zu reden. Die Autorin wechselt nun sowohl den Sprachgestus als auch die Dramaturgie. Filmschnittartig, mit harten "Cut"–Anweisungen an die Regie, wird in zwölf sogenannten Szenarien, in kurzen Szenen stakkatohaft versucht, das Geschehen zu bearbeiten.
Wenn ich nur wüsste, wo es wehtut.
Cut
Nein, ich habe keinen Appetit.
Cut
Der Schmerz ist eindeutig, das tut gut.
Cut
Nein, ich möchte auch heute keine Pizza essen, danke.
Cut (S. 44)
Im Gegensatz zu Schnitzlers epischer Erzählweise wählt Eberle eine collagenartige Dramaturgie, die sowohl als innere Monologe als auch in dialogischer Weise inszeniert werden kann. Ihr Text ist nicht auf Sprecherinnen oder Sprecher aufgeteilt. In der Regieanweisung heißt es: "Kann als Monolog oder mit mehreren Sprecher:innen besetzt werden" (S. 3). Es ist eine zeitgemäße Dramaturgie mit komponierter, rhythmisierter Sprache und wechselnden Bildern entstanden. Auf ihrer Website reflektiert die Autorin das Ende des Stücks anhand ihrer Gedanken zum Gewinn des Deutschen Jugendtheaterpreises 2022 und fragt:
Else so: Und was machen wir jetzt mit den Resten der Welt? In die Wörter hineinschauen vielleicht. Nichts selbstverständlich nehmen. Mit ästhetischen Mitteln neue Bezugssysteme erschreiben, eine Ahnung vom Unsichtbaren schaffen, Widersprüche nebeneinander übereinander ineinander stehen lassen. (https://carinaeberle.de/in-die-woerter-hineinschauen/)
Fazit
Das Stück else (someone) ist mehr als eine an unsere Zeit angepasste Übertragung der Schnitzlerschen Geschichte. Es ist von erdrückender Subjektivität der modernen Titelfigur geprägt und erschütternder Objektivität des Zeitgeschehens geschrieben. Die Autorin bietet den Theatern eine Vorlage, die nicht nur thematisch von aktueller Brisanz ist, sondern die den Bühnen auch eine große Vielfalt an Spiel- und Inszenierungsweisen eröffnet. Die Uraufführung fand am Theater Bielefeld statt. Das Stück richtet sich an junge Menschen ab vierzehn Jahren.
Literatur
Eberle, Carina Sophie: else (someone), Frankfurt am Main, Verlag der Autoren, 2021
Eberle, Carina Sophie: else (someone) / Der Traum von der glänzenden Zukunft. Zwei Theaterstücke, Frankfurt am Main, Verlag der Autoren 2023.
Abbildungen
Abb 1 Carina Sophie Eberle erhielt für ihr Stück else (someone) im Kaisersaal des Frankfurter Römers den Deutschen Jugendtheaterpreis 2022. Foto: Karin Berneburg
Abb 2 Theater Bielefeld else (someone), Foto: Lena Kern
- Name: Eberle, Carina Sophie