Inhalt

Der 18-jährige Musa erhält eines Tages einen Brief von der  Ausländerbehörde, in dem ihm mitgeteilt wird, dass er in Wirklichkeit kein Libanese, sondern ein Türke sei und somit unverzüglich das Land, die Bundesrepublik Deutschland, zu verlassen habe. Auf einen Schlag sieht Musa seine Existenz von gleich zwei Seiten in Frage gestellt: Zum einen von seinen Eltern, die ihm verschwiegen haben, dass sie die Wirren des libanesischen Bürgerkriegs in den 80er Jahren genutzt haben, um aus ihrer Heimat, der an den Libanon grenzenden türkischen Provinz Mardin, ohne Pass und als vermeintliche Libanesen und damit politische Flüchtlinge nach Deutschland zu kommen. Zum anderen wird er mit den Bestimmungen eines Völkerrechts konfrontiert, dass bei der Identität eines Menschen nicht danach fragt, wo jemand geboren und aufgewachsen ist.  

Musa wird in ein Abschiebegefängnis interniert. Seine Freundin Ceren, in der Türkei geboren und in Deutschland aufgewachsen, wirft Musa eine fatalistische Haltung und Untätigkeit vor. Die beiden streiten über ihre offiziellen Identitäten. Ceren stellt sarkastisch die Frage

Ceren: "Du hast ne Ahnung?"
Musa: "Ja, hab‘ ich, denn ich hab keinen deutschen Pass, dabei bin ich hier sogar geboren, du bist in der Türkei geboren und hast trotzdem einen deutschen Pass, also erzähl mir nicht, dass es nicht dasselbe ist, Deutscher zu sein und nen deutschen Pass zu haben.“ (S. 11)

Musas Geschichte und sein weiteres Schicksal wird verknüpft mit der Tätigkeit der Berliner Ausländerbehörde. Behördenleiter Trostmann, der selbst Zweifel hat, ob sein Name passend für seine Tätigkeit ist, und seine junge und engagierte Mitarbeiterin Ulrike zeigen entwaffnend, teils zynisch, teils hilflos ihren Arbeitsalltag auf. Gespräche über die Qualität des Kantinenessens und Überlegungen, wohin der nächste Betriebsausflug gehen sollte, scheinen mehr Raum einzunehmen als die Arbeit für die ihn zugeordneten Asylbewerberinnen und -bewerber. Trostmanns Engagement führt soweit, dass er eine Dienstreise nach Istanbul bewilligt bekommt, gemeinsam mit der Mitarbeiterin. Es wird als ein Pilotprojekt zur Fortbildung. "Wir müssen doch wissen, wohin wir den abschieben." (S.30) Musas Zweifel an sich und der Gerechtigkeit werden mit entwaffnend ehrlichen und erschütternd fremdenfeindlichen Dialogen aus der Behörde konfrontiert.

Nach dem Abschiebeflug nach Istanbul findet sich Musa im Transitbereich des Flughafens. Er erzählt seine Geschichte weiter: 

Musa: “Der Flughafen Atatürk ein Tränenpalst 
Wo sich sofort ein paar neue Wärter auf ihn stürzen
Vier Stunden in einem Zehn-Quadratmeter-Käfig 
Werbistduwieheißtduwaswillstduhier.“ (S. 31)

Plötzlich ist Musa draußen, irrt ziellos durch die Stadt. Zurück in der Flughafenmoschee findet er Unterschlupf, kann dort für einige Stunden schlafen. Per Chat bleibt er mit Ceren zwar verbunden, aber Missverständnisse bestimmen zunehmend die Beziehung. Cerens Besuch in Istanbul gerät zur hilflosen und verletzenden Auseinandersetzung zwischen den beiden. Musa, "ich bin jetzt Türke..." (S. 42), verdächtigt Ceren, einen neuen Freund zu haben und reagiert eifersüchtig. Ceren fällt es schwer, bei Musa zu bleiben. Der Fortgang der Beziehung bleibt offen. Ceren: "Er könnte alles mit mir machen, und ich würd ihn immer noch lieben. Aber wie kann man dann zusammen sein." (S. 44) 

So wenig wie Ceren weiß, wie es mit ihrer Beziehung zu Musa weitergeht, so überraschend stoßen Trostmann und Kollegin Ulrike in Istanbul auf einen jungen Mann, in dem sie Musa meinen zu erkennen. Ist der Mann wirklich der von ihnen abgeschobene "falsche Libanese"?  (S. 46)

Ulrike spricht ihn an: "Entschuldigen Sie, aber kenn ich Sie nicht irgendwoher?"
Musa (oder auch nicht): "Woher"?
Ulrike: "Gute Frage. Ich glaub, ich hab mal was über Sie gelesen?"
.[..]
Musa: "Schieb ab, Alte" (S. 50 f.)

Kritik

Der Dramatiker Jörg Menke-Peitzmeyer ist ein vielgefragter Spezialist für aktuelle, thematisch orientierte Theaterstücke, die sich an  junges Publikum richten. Der Autor, ausgebildet als Schauspieler, hat seit seinen literarischen Anfängen 2000 vorwiegend für Jugendliche geschrieben. Sein bisher meistgespieltes Stück Steht auf, wenn ihr Schalker seid (2005) wurde als Theater für das Klassenzimmer konzipiert. Es folgten weiter Stücke für diesen spezielle Spielort (Erste Stunde, 2006), Ich bin ein guter Vater (2008) und festigten den Ruf, dass Jörg Menke-Peitzmeyer ein Spezialist für das Theater im Klassenzimmer sei.

Seinen Stücken geht stets eine intensive Recherche im gesellschaftlichen Umfeld voraus, verbunden mit der permanenten Beobachtung tagesaktueller Themen. So sind bisher über 20 Stücke entstanden, die sich oftmals thematisch bündeln lassen. Der Autor setzt sich z.B. mit Themen wie Essstörungen   (Der Essotiger, 2007), Krankheit und Tod (Du siehst Gespenster, 2007)Miriam, ganz in Schwarz, 2012), Jugendarmut  (Arm, aber sexy, 2007) oder Mobbing in der Schule  (Erste Stunde, 2006) auseinander. Ein Schwerpunkt ist das Thema Fußball, u.a. mit den Stücken Manndecker (2000), Abstiegskampf (2006), Fangesänge (2012). 

Auch das Stück Getürkt basiert auf ausführlichen Recherchen sowohl in Berlin als auch in Istanbul, Menke-Peitzmeyers zweitem Wohnsitz. Getürkt liegt einer realen Geschichte zugrunde, die erstmals im Magazin Der Spiegel erschien. 

Ich bin diese Geschichte nicht gezielt angegangen. In der U-Bahn saß ein Junge, der wie gebannt diese Geschichte im "Spiegel" las. Ich habe mir dann die Zeitschrift gekauft. Grundsätzlich nehme ich vieles aus meinem eigenen Leben, lese in der Zeitung, was eine gute Geschichte sein könnte. (Menke-Peitzmeyer in Offenburger Tageblatt, 20.9.2012) 

So eindeutig das Stück in der thematischen Ausrichtung ist, nämlich die Abschiebeproblematik behandelnd, so vielfältig und anspruchsvoll ist es in seiner formalen Ausgestaltung. Musas Geschichte wird rückblickend erzählt, die Szenen in der Ausländerbehörde haben Doku-Soap Charakter, das Lied "Mädchen aus Ost-Berlin" von Udo Lindenberg spitzt auf musikalische Weise das Thema zu, Satzfetzen in türkischer Sprache und knappste Chat-Dialoge ergänzen die sprachliche Gestaltung des Stückes. Diese Sprach- und Formenvielfalt und die schnell wechselnden Schauplätze machen das Stück nicht nur für das Publikum, sondern auch für Regie und Schauspiel interessant und anspruchsvoll. 
Menke Peitzmeyer Getuerkt Inszenierung BaalNovoAbb. 2 Theater BAAL novo Getürkt mit  Hans Diehl und Sinan Hancili

Fazit

Die Entstehung des Stücks Getürkt - für Menschen ab vierzehn Jahren - wurde durch ein Stipendium des Baden-Württembergischen Jugendtheaterpreises 2010 ermöglicht. Entsprechend fand die Uraufführung in Offenburg, am 5. Oktober 2012 im Theater BAAL novo, in Koproduktion mit dem Theater Bonn statt. Aus 150 von Theatern und Verlagen vorgeschlagenen Jugendstücken wurde Getürkt als eines von zehn für den Deutschen Jugendtheaterpreis 2012 nominiert. Das Stück leistet seinen Beitrag zur 'Migrationsdebatte'. Im Textbuch werden acht Figuren gelistet, für eine Inszenierung werden mindestens zwei Schauspierinnen und zwei Schauspieler benötigt. 

Literatur 

Menke-Peitzmeyer, Jörg: Getürkt. Berlin: Felix Bloch Erben, 2012

Information über den Autor 

Abbildungen

Abb. 1 Jörg Menke-Peitzmeyer. Foto: Ann-Christine Jansson 

Abb. 2 Theater BAAL novo Getürkt, Foto Hubert Braxmeier

Titel: Getürkt
Autor/-in:
  • Name: Menke-Peitzmeyer, Jörg
Uraufführung: Theater BAAL novo Offenburg, 5.10.2012 (Koproduktion mit dem Theater Bonn)
Erscheinungsort: Berlin
Erscheinungsjahr: 2011
Verlag: Theaterverlag Hofmann-Paul
Altersempfehlung Redaktion: 14 Jahre
Menke-Peitzmeyer, Jörg: Getürkt