Inhalt

Wie ich über meinen Schatten stolperte und immer immer wieder aufstand ist ein Stück über das Warten auf das Größerwerden. Auf diesen Weg schickt der Autor seine beiden Figuren ICH und DU ins Bühnengeschehen. Sie spielen ein Spiel des ständigen Stolperns und des immer wieder Aufstehens. Warum stolpert ICH dauernd? Hat DU, sein ihn ständig begleitender Schatten, ihm ein Bein gestellt? Kann ICH sich selbst ein Bein stellen? Oder ist er über seine eigenen Schuhe, die schon so erwachsen aussehen, die viel zu groß sind, gestolpert? Und welche Rolle spielt "die ZEIT im Schuh" (S. 5), die in der Besetzungsliste ebenfalls aufgeführt wird? Das Stück, das gänzlich von der knapp gehaltenen Sprache lebt, befragt kindliche Verhaltensmuster. Wer bin ich, warum dauert das Wachsen so lange, wann stoßen meine Zehen in den Schuhen endlich vorne an?  Ab wann gibt es "Stress im Schuh"? (S. 11)

ICH: Dass mir das auf die Nerven geht? 
Diese ganze Langeweile meine ich 
Warum die so lange dauert
[...]

DU: Erst wenn du die Zeit in deinen Schuhen da abgewartet hast 
Erst wenn du also endlich mit deinen Zehen vorne anstößt 
Dann erst bist du in deine Schuhe reingewachsen bist du dann 
Und dann ist die Zeit da in ihnen drinnen eben zu Ende 
Ab dann hast du Stress im Schuh (S. 11)

Das Warten führt unweigerlich zu der Begegnung mit dem eigenen Ich. Wenn da nicht das dauernde Stolpern wäre. Und wenn DU nicht dauernd ICH hinterher – oder doch vorneweg? – laufen würde. Tröstlich ist die Erfahrung, dass ICH niemals allein ist. DU ist ja immer dabei.

Du: Nein
Ich bin immer da bin ich natürlich
Auch im Dunkeln
Ich lass dich nicht allein mit dir
Ich gehe nicht weg von dir gehe ich nie (S. 28)

ICH erfährt, dass DU zum Freund, zum Beschützer und Begleiter wird. Das Selbstbewusstsein wächst. Gemeinsam stolpern und aufstehen macht viel mehr Spaß im Leben. Und am Ende passen die Schuhe “weil sie jetzt zu Ende ist sie jetzt / die ganze Warterei die.“ (S. 44)

Brandau Wie ich ueber meinen Schatten Inszenierung LueneburgAbb. 2: Theater Lüneburg Wie ich über meinen Schatten stolperte und immer wieder aufstand mit Yves Dudziak und Niklas Schmidt

Kritik

Brandaus Stück ist eine Herausforderung für jedes Theater, seine Dramaturgie, Regie und Schauspiel. Das Stück erschließt sich ausschließlich über den Text, einem reduzierten, handlungsarmen Text in knapp gehaltenen Worten. Der Autor gibt keine Regieanmerkungen, keine Hinweise zum Bühnenbild, zu Zeit und Ort.  Mit einer Ausnahme: das Stück spielt auf einer Bühne, alles was passiert, passiert auf der Bühne, alles ist Theater.

ICH. 
ALLEIN.
MITTEN auf der Bühne.
Sonst nichts.
Nur ICH
[...]
Da stehst DU.
So wie ICH hier steh.
So stehst auch DU da so. 
Und so wie ICH dich seh. 
So siehst auch DU mich an. 
Und ICH.
ICH will nur weg.
Doch als ICH weg will.
Da stolper ICH.
Und wieder falle ICH. (S. 7)

Brandaus Text ist nichts für das schnelle Überfliegen. Er will sowohl in seiner lyrischen Form, seinem Rhythmus und seinem philosophischen Gehalt erforscht werden. Im Idealfall einer Inszenierung geht dieses Erkennen und Erforschen des Textes von der Dramaturgie und Regie über zu den Schauspielerinnen und Schauspielern. Erst wenn die Spielenden auf den Proben Brandaus Sprachgestus und Syntax erkannt und verinnerlicht haben, kann der Text in seinem Rhythmus zum Klingen gebracht werden.  

ICH: Dass mich das nervt mein ich
Dass du alles immer besser weißt du das
Dass eben eben nicht jetzt
Oder überhaupt das Ganze mit der Zeit
Dass ich immer wieder über sie stolpern werde ich
Warum weißt du eigentlich alles immer besser als ich das weiß? (S. 33)

Auffallend an diesen Textbeispielen ist auch die vom Autor auf den Kopf gestellte Grammatik. Eine Syntax, die Worte verdoppelt, Substantive ans Ende eines Satzes rückt oder sich in einem bewußt einfachen Satzaufbau zeigt. Brandaus komplex gestaltete Sprachstruktur, die kindliches, reduziertes Sprechen aufnimmt und wiedergibt, ist prädestiniert für das laute Sprechen und weniger für das stille Lesen.  "So würde ich meinen Sprachstil am liebsten als einen minimalistischen beschreiben. Aber ist er das wirklich? Vielleicht ansatzweise, ja. Aber das könnte doch noch viel minimalistischer gehen." (Brandau, 2023) In diesen Selbstäußerungen zum Stück benennt der Autor mit Ernst Jandl und Kurt Schwitters zwei seiner literarischen Vorbilder. "Brandau, der neue Beckett aus dem Norden?" fragt Gerd Taube in seinem Blog-Beitrag zum Stück. (Taube, 2023)

Die Begegnung mit dem eigenen Ich als philosophische Fragestellung spielt in Brandaus Kinderstücken eine zentrale Rolle. In seinem bisher erfolgreichsten Stück Dreier steht Kopf, uraufgeführt 2014 und mit dem Mülheimer KinderStückePreis 2015 prämiert, will die Figur Dreier sich nicht mit seiner Rolle abfinden und stellt die gewohnte Zahlenfolge -eins, zwei, drei- in Frage. Auch in Himmel und Hände (uraufgeführt 2015, Mülheimer KinderStückePreis 2016) befragen sich die beiden Figuren A und O in ihrer Freundschaft vom Kindergarten bis zum Schulbeginn nach ihrem Unterschiedlichsein.  In diesem Stück ist auch das Motiv des Wartens und des Wachsens zu finden, ebenso wie in Wildes Wald (2017) oder in Sagt der Walfisch zum Thunfisch (2018).  In der Gesamtschau auf seine Kinderstücke erweist sich Carsten Brandau als einer der wenigen Autoren seiner Zunft, der die philosophische Dimension des Kindseins befragt und ins Zentrum seiner Werke stellt. 

Fazit

Das Stück Wie ich über meinen Schatten stolperte und immer immer wieder aufstand, geschrieben 2021/22, ist das Resultat einer Autorenarbeit: anspruchsvoll, vielschichtig und sprachorientiert. Das Stück, für Kinder ab fünf, steht als Beleg für die Qualität und den Mehrwert literarischer Autorenarbeit, gerade in den Zeiten des – auch im Kindertheater – aktuellen projektorientierten Bühnengeschehens. 

Literatur

Brandau, Carsten: Fragen an Autor Carsten Brandau. In: Programmblatt Wie ich über meinen Schatten stolpert..., Theater Lüneburg, 2023

Taube, Gerd: Warten, dass die Zeit vergeht. In: Blog Darstellende Künste & Junges Publikum.  https://jungespublikum.blog/2023/02/11/warten-dass-die-zeit-vergeht/

Information zum Autor

Abbildungen

Abb. 1 Carsten Brandau. Foto: Stefan Malzkron

Abb. 2 Theater Lüneburg Wie ich über meinen Schatten stolperte und immer wieder aufstand, Foto: T&W Hans-Jürgen Wege

Titel: Wie ich über meinen Schatten stolperte und immer immer wieder aufstand
Autor/-in:
  • Name: Brandau, Carsten
Uraufführung: Theater Lüneburg, 10.02.2023
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: Drei Masken Verlag
Altersempfehlung Redaktion: 6 Jahre
Carsten Brandau