Inhalt

Joshi ist wütend. Immer machen sich seine Mitschülerinnen und Mitschüler über ihn lustig. Denn Joshi trägt so gerne Kleider. Weil sie so schön sind. Da hilft auch keine verständnisvolle Mutter. Auch die Tür ist sauer, denn Joshi knallt sie mit lautem Donner zu. Das tut weh, und auch das Kleid ist genervt, denn "immer reden alle nur darüber, dass ich schön bin." (S. 4)

Mira ist ebenfalls sauer, auf die Schule, die Lehrerin und auf sich. Warum gibt es so doofe Regeln, die vorgeben, in der Pause auf den Schulhof zu gehen oder die Lehrerin siezen zu müsssen. Schließlich duzt diese ja die Schülerinnen und Schüler. Da hilft auch der gütigste Großvater nicht, der mit einem Eis vor Miras Zimmer steht. Denn Mira "ist fest entschlossen, heute nichts mehr zu sagen außer Nein. Oder – als Ausnahme vielleicht – noch Ist mir egal." (S. 6)

Soweit diese STINKNORMALE, ULTRANERVIGE WELT, IN DER ALLES WIE IMMER IST, JEDEN TAG DASSELBE, UND ALLES AUCH IRGENDWIE BLÖD. (S. 10) In diese Welt bricht einen zweite  Welt herein, nämlich DIE ANDERE WELT. DIE, IN DER ALLES ANDERS IST, ABER AUCH NICHT GUT, SONDERN EINFACH NUR UMGEDREHT. AUCH AUFGEDREHT UND VERDREHT (S. 10)

Die beiden Welten treten in einen Wettstreit. Soll alles immer so bleiben wie es ist? Und wer sagt, dass das richtig ist? Oder sollte man mal das totale Gegenteil machen? In der nun durchgespielten anderen Welt stehen die Dinge wahrlich auf dem Kopf. Eltern fordern die Kinder auf, morgens im Bett zu bleiben, die Schule fängt nicht mit dem Morgen-, sondern mit dem "Mitternachtskreis" (S. 32) an, die Lehrerin erinnert Joshi "Und vergiss nicht, dein Kleid anzuziehen." (S. 33). In der Bäckerei gibt es Brezeln "erst ab achtzehn", dafür aber Nougatcroissants, denn die "sind besonders gut für die Zähne." (S. 35)

Mit dem erneuten Auftritt der beiden Welten beendet die Autorin die verspielten Situationen, die bei Mira und Joshi manches Achselzucken hinterlassen haben, und kehrt zu der Frage nach dem "normalen" Leben zurück. 

Mira: Was ist schon normal? Ist anders als sonst. Aber normal...ich mag das ja nicht, das Normal-Ding.
Joshi: Wie meinst du?
Mira: Na, nur ... also normal ist doch nur, was halt irgendjemand mal erfunden hat. Und dann machen das alles so, und deshalb denken dann alle, also alle alle, dass das normal ist. Dabei hat das jemand mal so beschlossen. (S. 41 f.) 
Joshi und Mira wägen die normale und die andere Welt ab.
Mira: Na ja, du bist die Welt, die einfach nur anders sein will. Anders ist ja nicht immer besser. Find ich. (S. 49) 

Mit emanzipierter Haltung fordert Mira von den beiden selbstbezogen agierenden Welten eine neue Sichtweise auf die Dinge, eine Art "dritten Weg": "Vielleicht fragt ihr mal uns." (S. 51)

Abb. 2 Pathos Theater München Als die Welt rückwärts gehen lernte mit Angelika Krautzberger und Tine Hagenamm 

Kritik

Mira und Joshi, laut Aussage der Autorin "beide ca. 10 – 11 Jahre alt" (S. 2), stehen im Zentrum der Handlung. Sie wachsen in behüteten und liebevollen Verhältnissen auf, umsorgt, aber dennoch ist in ihnen diese Wut, die einfach raus muss, laut, spontan, dem Kindsein angepasst. Es ist der ganz normale Alltag, "in dem alles wie immer ist, jeden Tag dasselbe, und alles auch irgendwie blöd" (S. 10), es ist, im übertragenen Sinne, ein kindliches Leiden an der Welt, so wie sie ist.

Nach der Etablierung der beiden Protagonisten und der Problemstellung bringt die Autorin nun, in einer Art Versuchsanordnung, das Pippi Langstrumpf Motiv ins Spiel: Kinder dürfen alles machen, die Welt auf den Kopf stellen und sich frei von allen Regeln der Erwachsenen bewegen. Dazu erfindet Gorelik zwei weitere Bühnenfiguren, nämlich die STINKNORMALE, ULTRANERVIGE WELT und die plötzlich und mit viel Getöse auftauchenden ANDEREN WELT. DIE IN DER ALLES ANDERS IST. Diese streite in einer verbale Auseinandersetzung um das richtige Leben

STINKNORMALE WELT: Sag mal, spinnst du? Bist du nicht ganz dicht?
DIE ANDERE WELT: Ja, bin ich! Bin ich! Bin ich! Also bin ich nicht. Also ich bin nicht ganz dicht. Ich bin das andere. (..)
STINKNORMALE WELT: Was denn?
DIE ANDERE WELT: Ich bin nicht ganz dicht. (Wütet, macht Lärm). Nein, bin ich nicht, dicht. Ich bin halt ich. Einfach ich.
STINKNORMALE WELT: Ja, sieht man. Hört man auch. […]
STINKNORMALE WELT: Alles ist, wie es ist. Alles ist richtig. Alles hat seine Ordnung.
DIE ANDERE WELT: Wer sagt denn, dass das so richtig ist? (S. 10 f.)

In einer Abfolge komödiantischer und absurder Szenen erleben Mira und Joshi den umgedrehten Alltag. Dass Dinge wie Topf, Unterhose oder Kleid plötzlich sprechen können und als belebte Figur auftauchen gibt dem Stück Humor, aber dem Publikum auch – in einer Art Verfremdungseffekt – die Möglichkeit zum Staunen und Hinterfragen der Situationen. In gleicher Funktion sind auch die regelmäßig eingebauten Liedtexte zu verstehen. Sie überhöhen die Situation, stellen die eigentliche Funktion des Gegenstands in Frage und unterbrechen als retardierendes Moment die Handlung. 

Auto:   Jeden Morgen, jeden Tag
Immer schnell und immer zack
Steh so ungern hier allein
Will doch gar nicht Auto sein
Zack – zack – zack – zack (S. 21)

Die Sprache des Stücks entsteht aus den Figuren heraus. Sie ist nicht von der Autorin bewusst kindlich oder gar kindisch gestaltet, sondern in einem glaubwürdigen, figurenadäquaten Ton gehalten. Dadurch entsteht eine hohe Glaubwürdigkeit der Figuren und ihrer Argumente. 

Der weitere Schreibprozess war eng verknüpft mit dem Auftraggeber des Stückes, dem PATHOS Theater. Gemeinsam wurden Kinder in einer Münchner Hortklasse nach ihren Wünschen für eine ideale Welt befragt. In einem Interview beschreibt Lena Gorelik diese Erfahrung.

Was wäre die Welt, wenn sie morgen eine andere wäre? Haben wir die Hortkinder befragt. Und die haben gar nicht so simpel gedacht. In dem Sinne, dann gibt’s zum Frühstück Eis, dann ist alles in Ordnung. Sondern die Kinder haben sich gefragt, wenn wir nicht mehr in die Schule müssen, was passiert dann mit den Eltern, was passiert, wenn die nicht arbeiten müssen, und wer verdient dann das Geld? Die Kinder haben sich jene Fragen, die DIE ANDERE WELT nicht konsequent zu Ende gedacht hat, die haben sie sich sofort gestellt. (2)  

Offen bleibt der Schluss und die finale Aussage des Stückes: "Vielleicht fragt ihr mal uns." (S. 51) Mira, die engagiertere der beiden Kinder, und Joshi wollen sich ausprobieren, wertfrei betrachtet werden und mit dieser Haltung und entgegengebrachten Respekt in die Welt hineinwachsen. Dazu gehört für die Kinder, einmal die Welt auf den Kopf zu stellen, dieses spielerisch zu durchdenken. Es drängt sich auf, die Intention der Autorin mit einer aktuellen politischen Maßnahme zu verbinden. 2021 hat der Deutsche Bundestag das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG – verabschiedet. Darin heißt es unter anderem: "Kinder und Jugendliche und ihre Familien erhalten mehr Gehör; sie werden darin unterstützt, ihre Rechte wahrzunehmen. (...) Das Gesetz stärkt organisierte Formen der Selbstvertretung. Kinder und Jugendliche erhalten außerdem einen uneingeschränkten eigenen Beratungsanspruch – ohne ihre Eltern." (3)

Fazit

Lena Goreliks literarisches Schreiben ist politisch intendiert und von biografischen und autofiktionalen Themen durchzogen. Die Autorin, die als 11-jährige 1992 mit ihren Eltern aus Russland nach Deutschland floh, hat sich immer wieder mit der deutschen Gesellschaft und dem Hineinwachsen in diese beschäftigt. In ihren beiden Veröffentlichungen, dem Sachbuch Sie können aber gut Deutsch! (2012) und dem Roman Wer wir sind (2021) zieht sie persönlich Bilanz. Auch in ihrem Kinderstück untersucht die Autorin das Verhältnis von kindlicher Individualität und Gesellschaft.

Als die Welt rückwärts gehen lernte sollte in der Tradition des politisch aufklärerischen Kindertheaters verstanden werden. Es zeichnet sich dabei weniger durch eine Konfliktstruktur z.B. sozialer Benachteiligung oder bekannter Eltern-Kind-Problematik aus, sondern sucht in einem ruhigen, unaufgeregten Ton nach Möglichkeiten, den Kinderrechten mehr Gehör zu verschaffen. Im Zentrum stehen die Kinder in ihrem berechtigten Wunsch, einfachen nur so zu sein wie sie mögen.

Anmerkungen

1) Homepage des Pathos Theaters

2) Video der Mülheimer Theatertage

3) Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen

Literatur

Gorelik, Lena: Als die Welt rückwärts gehen lernte. Hamburg, Rowohlt Theater, 2022.

Information zur Autorin

Abbildungen

Abb. 1 Lena Gorelik. Foto: privat

Abb. 2 Pathos Theater München Als die Welt rückwärts gehen lernte, Foto: Franz Kimmel

Titel: Als die Welt rückwärts gehen lernte
Autor/-in:
  • Name: Gorelik, Lena
Uraufführung: PATHOS Theater München, 13.01.2022
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: Rowohlt Theaterverlag
Altersempfehlung Redaktion: 7 Jahre
Gorelik, Lena: Als die Welt rückwärts gehen lernte