Inhalt
Szene 1, Bangladesch. In einer Fabrik nähen Kinder Stofftiere für den Weltmarkt. So auch der Junge Anand. Er muss das Geld für die Familien verdienen, da seine Mutter als Leihmutter zur Geburt des Kindes ins "Haus der Freude" (S. 8) nach Deli gezogen ist. Sie "geht nur ihren Bauch vermieten". (S. 8) Anand möchte zur Schule gehen, möchte Zauberer werden, ein besseres Haus haben. Er schreibt einen Brief an Gott, in dem er von seinen Hoffnungen berichtet. Den Brief näht er in den Bauch eines Stofflöwens, dem er vor dem Transport schnell noch das zweite Auge, wenn auch etwas schief, annäht. Der Löwe wird den Brief mitnehmen und ihn in Europa an Gott überreichen, denn Gott muss, so Anands Vorstellung, in dem reichen Europa leben. Über sieben weitere Stationen von Deutschland über Senegal, Mali, Spanien, Frankreich geht die Reise des Löwens von Kinderhand zu Kinderhand, als Glücksbringer, Trostspender und Hoffnungsträger. Schließlich landet er in Indien bei Anands Mutter, die für ein französisches Paar Zwillinge zur Welt gebracht hat, und wird von ihr mit zurück nach Bangladesch gebracht. Anand erkennt „seinen“ Löwen, der ihm Gottes Antwort überreicht: ein vom vielen Meerwasser verwaschenen Zettel. „Da steht: "Ja, Anand," da steht nur "Ja, Anand." Ist das zu glauben? Gott hat mir geantwortet.“ (S. 53). Die Antwort, auf welche Frage sich Gott mit seinem "Ja, Anand" bezieht, muss unbeantwortet bleiben. "Ich meine, wie viele kennst du denn bitte, die einen Brief von Gott erhalten haben?", merkt der Löwe an und Anand antwortet zufrieden "Du hast recht, Löwe, da hast du recht." (S. 53)
Kritik
Das Thema der Globalisierung ist bisher im Kindertheater nur zögerlich aufgenommen worden. 2003 verfasste der Schauspieler Thomas Ahrens für das Grips Theater, an dem er langjährig und bis heute engagiert ist, ein Stück mit dem Titel Der Ball ist rund. In diesem wird von Station zu Station die Herstellung einer Jeans, von der Ernte der Baumwolle über das Weben und Einfärben des Stoffes bis zur endgültigen Fabrikation der Jeans nachgestellt. Auch das Stück Löwenherzen folgt der offenen Form des Stationendramas. Die acht Szenen, die die Stationen einer Reise über drei Kontinente bilden, sind in losem Zusammenhang aufeinander aufgebaut. In jeder Station, den Haltepunkten dieser Reise, wird eine andere Geschichte erzählt, tauchen neue Figuren und deren Konflikte auf. Innerhalb der einzelnen Stationen bedient sich die Autorin einer Vielfalt stilistischer, sprachlicher und dramaturgischer Mittel. Im Fokus und als Kontinuum der Handlung steht die Figur des Löwens. Sie hält nicht nur die Geschichte zusammen, sondern vor allem auch die Spannung aufrecht.
Sie gehen mit den Füßen ins Wasser. Zuerst Vanya, dann folgt ihr Amari zaghaft. Eine Welle schwappt über die beiden. Der Löwe wird aus Amaris Arm fortgerissen und weggespült. Amari beginnt zu schreien und zu toben. Vanya versucht ihn zurückzuholen, aber erfolglos...
AMARI Mein Löwe...Mein Löwe...Ich will meinen Löwen wiederhaben. Ich kann nicht schwimmen. Der Löwe kann schwimmen, ich nicht. Ich brauche ihn wieder! (S. 35)
Die Rolle des Löwens ist vielfach zu interpretieren. Er kann sprechen, ihm werden Zauberkräfte zugesprochen und er dient als Flaschenpost, um eine Botschaft von Kontinent zu Kontinent zu tragen. Er dient auch den Flüchtlingskindern Amari aus Mali und Vanya aus Bulgarien, die einander am Mittelmeerstrand sprachlich nicht verständigen können, als spielerischer Mittler.
Im Sinne eines realistischen Aufklärungsstücks problematisiert die Autorin in Löwenherzen geopolitische Themen. Kinder in Bangladesch, die für die westliche Konsumgesellschaft arbeiten, Frauen, die Babys für vermögende Menschen austragen, oder Menschenhändler, die skrupellos ihr Geld machen, lassen Löwenherzen zu einem globalisierungskritischen Stück werden. So berichtet Kiano, Sohn eines Menschenhändlers über seinen Vater:
Er bringt sie von einem Ort zu einem anderen. Er ist nämlich sehr stark und groß und hat überhaupt keine Angst. Vor den Löwen nicht, und vor der Miliz auch nicht, und auch nicht vor Präsidenten. (S. 20)
Der Realismus der Handlung wird auf vielfältige Weise gebrochen und von magischen, märchenhaften und auch surrealen Momenten durchzogen. Dabei spielt der Traum, das träumende Wünschen der Kinder nach einem besseren Leben ein hervorgehobene Rolle.
Traumfiguren als Gesprächspartner für die Konfliktlösungen der Kinder gehören zu einem gängigen dramaturgischen und inhaltlichen Prinzip der dramatischen Kinderliteratur. Als Beispiele seien genannt: Mike Kenny Die Seiltänzerin; Christina Kettering Los, Lilli, hex oder Jens Raschke Wer nicht träumt, ist selbst ein Traum. Es sind die Kinder, die die Welt verändern wollen, die sich für eine bessere Zukunft einsetzen. In Löwenherzen werden dafür Perspektiven eröffnet und entsprechend ausgesprochen: aus westlicher Kinderperspektive ein kritisches Konsumverhalten und für den globalen Süden gesicherte Bildungschancen für alle Kinder. Antoine de Saint Exupérys Kunstmärchen Der kleine Prinz mag der Autorin als Inspirationsquelle gedient haben. Es sind diese unterschiedlichen Startbedingungen und Lebensweisen, die dem Stück eine Grundtenor für solidarisches Handeln auf der Ebene der Kinder unterlegen.
Ein Beispiel: Szene 2 spielt am Weihnachtsabend in einem wohlhabenden Haus in Deutschland. Die Tochter Emma berichtet von ihrem Schulprojekt, Sachspenden für Afrika zu sammeln.
EMMA Charlotte zum Beispiel sagt, dass sie alle ihre Geschenke von diesem Weihnachten spenden wird. Dass sie sie gar nicht erst auspackt. Aber das nehme ich ihr nicht ab...
...
EMMA Aber ich will es auf keinen Fall so machen wie sie..... Wenn ich nur Sachen reintue, die ich nicht mehr brauche, dann sind es bloß alte und doofe Sachen, und dann ist es so, als würde ich nicht gerne teilen. Das wäre nicht großzügig. Das wäre falsch.
...
MUTTER Aber das ist es doch, Schätzchen, das ist es doch. Du teilst mit den Ärmeren – das ist richtig.
...
EMMA Nein. Ist es nicht. Richtig großzügig ist es, wenn man etwas gibt, was man selbst gerne hätte. Dann ist es richtig. (S. 13f.)
Mit einem Kunstgriff schafft es die Autorin das Ende ihres Globalisierungsmärchens perspektivisch und hoffnungsvoll zu gestalten. Sie lässt den Ausblick und die Utopie auf eine gerechtere Welt von den noch ungeborenen Zwillingskinder im Mutterbauch sprechen. Von einer Leihmutter aus Bangladesch ausgetragen und von einem europäischen Paar adoptiert träumen die beiden noch Ungeborenen von ihrer Zukunft, einer besseren Zukunft, die ihnen Bildung, eine tolerante Menschheit, Vielsprachigkeit und eine friedfertige Welt verspricht. So utopisch das klingen mag, im Mutterbauch darf man träumen und erste recht im Theater.
Fazit
Löwenherzen ist ein Ausweis für die vielfältige Begabung der Autorin und Theaterregisseurin Nino Haratischwili, die sowohl in der erzählenden als auch in der dramatischen Literatur für alle Generationen erfolgreich publiziert. Für Löwenherzen hat sie im Umfeld des Gelsenkirchener Consol Theaters recherchiert (1) und ist auf den Wunsch des Theaters, "nach einem Stück, das globalisierte Wirtschaftskreisläufe in den Mittelpunkt stellt", (Consol, S. 3) eingegangen. So entstand ein Stück des Magischen Realismus mit sehr viel zeitkritischer Relevanz für das aktuelle Kindertheater.
Literatur
Haratischwili, Nino: Löwenherzen. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 2021
Consol Theater: Materialmappe zu Löwenherzen, Gelsenkirchen, 2021
Ahrens, Thomas: Der Ball ist rund. Berlin: Grips Theater, 2003
Anmerkung 1: Über die Entstehung der Uraufführungs-Inszenierung hat das Consol Theater einen 21 minütigen Film hergestellt.
https://www.youtube.com/watch?v=DzTXSwdGFc0&t=79s
Abbildungen
Abb. 1 Nino Haratischwili. Foto: Steffen Baraniak
Abb. 2 Löwenherzen, Consol Theater Gelsenkirchen mit Thomas Kaschel, Foto: Martin Möller
- Name: Haratischwili, Nino