Inhalt
Die Handlung des Stückes Glanz wird in drei Hauptteilen erzählt. In "Teil 1 Freundschaft / Vor zwei Jahren"(Kettering 2023, S. 9) etabliert die Autorin ihre vier jugendlichen Figuren. Ray, ein bekannter New Yorker Discjockey und Radiomoderator, Lenny, der in New York sein Glück als angehender Drehbuchschreiber sucht und in einem 5-Sterne Hotel an der Rezeption jobbt, Mavie, die scheue Redaktions-Assistentin eines Modemagazins, und Anna Delvey, die Hauptfigur des Stückes. Anna, die neu in New York angekommen ist, gibt vor, mit einer Erbschaft von 60 Millionen Dollar eine Kunststiftung aufzubauen.
Anna stellt zu allen drei Figuren Kontakt her und baut Vertrauen auf, pflegt diese auf unterschiedliche Weise. Ray, der in der Szene bereits einen Namen hat, soll ihr die Türen in vermögende gesellschaftliche Kreise öffnen. Anna gibt Mavie das Gefühl, für sie besonders wichtig zu sein, und Lenny verspricht sie, seine Karriere zu befördern. Mavie und Lenney begreifen sich, nicht ohne Stolz, als "Annas Crew".
ANNA
Ich kauf die Bar leer.
He, Bartender. Einmal allesMAVIE
Ja, einmal alles, weil wir es verdient haben.LENNY
Weil wir besonders sind.MAVIE
Weil wir wir sind.LENNY
Weil wir Annas Crew sind
(Kettering 2023, S. 41)
Der mittlere Teil der Handlung, "Teil 2: Marokko / Vor zwei Jahren" (Kettering, S. 52), zeigt die Vorbereitungen und Durchführung einer Reise nach Marokko. Anna gibt vor, dass dort ein Imagefilm für ihre Kunststiftung gedreht werden soll.
ANNA
[…] Mir geht es nicht darum, Wodka Lemon am Pool zu schlürfen. Ich arbeite. Verstehst Du das? Wir drehen einen Film. Es geht ums Image. Präsentation. Selbstdarstellung. Das ist eine Währung im Geschäft. Es geht darum, dass mögliche Investoren beeindruckt sind und mir Geld für meine Stiftung geben. Das ist harte Arbeit. (Kettering 2023, S. 52 f.)
Annas Plan, Ray aus Imagegründen mit auf diese Reise zu nehmen, scheitert aufgrund seiner Absage. In einem Insta-Video zeigt Mavie das luxuriöse Leben, das sie mit Anna dort "in einem der besten Hotels der Welt" (Kettering 2023, S. 60) führt. Probleme gibt es nun zunehmend mit dem Begleichen der Hotelrechnungen und weiteren Ausgaben. Anna erfindet stets neue Ausreden über die Probleme mit ihren Kreditkarten und lässt Mavie die Rechnungen bezahlen. Als sich bei ihr Auslagen in Höhe von 60.000 Dollar angehäuft haben, fliegt diese zurück. Das süße Leben ist vorbei, der Schwindel wird offensichtlich.
In "Teil 3: Nach Marokko / Vor zwei Jahren" (Kettering 2023, S. 61) steuert die Handlung auf die Katastrophe zu: Mavies Konto ist so belastet, dass sie ihre Miete und täglichen Ausgaben nicht mehr bezahlen kann, Lenny, der Anna ohne Kreditkarten-Sicherheit ins New Yorker Hotel eingecheckt hatte, verliert seinen Job als Rezeptionist, und es ist Ray, der den ersten Verdacht ausspricht:
RAY wählt eine Nummer
Hi Mavie. Ich erreiche dich seit einer Weile nicht. Wollte mit dir reden. Wegen Anna. Ich glaube, da stimmt was nicht […] (Kettering 2023, S. 64)
Die Personen, die nun auf Distanz zueinander gehen, kommen nicht mehr zusammen. Anna wird bei ihrer Rückkehr in die USA verhaftet und agiert von da an aus dem Abschiebegefängnis auf digitalem Weg. Dazu erfindet sie ihren Avatar und gewährt ihren Fans und Anhängern „Zugang zu Anna über exklusive Livestreams und andere Online- und Metaverse-Envents“. (Kettering 2023, S. 87) Natürlich gegen Bezahlung.
Neben diesen drei Teilen, in der die Geschichte erzählt wird, hat die Autorin für jede Figur (außer Anna) sogenannte "Pfade", Monologe entwickelt. Diesen dienen als Ebene der eigenen Reflexionen. Ein Beispiel:
Pfad Mavie 4
Mavie
Als wir in Marokko waren, in diesem Luxushotel.
7000 Dollar die Nacht.
Ich hatte so was noch nie gesehen.
Privatpool. Butler. Limousinenservice. Unser ganzes Riad war größer als mein Apartment in New York.
Als wir dort ankamen, bestellte ich gleich Champagner.
Ich dachte, das genießt du jetzt.
Sie wollte, dass du mitkommst, sie hat auch was davon.
Sie möchte eben echte Menschen dabeihaben, echte Freundinnen, nicht diese
Oberflächlichen anderen Reichen.
Ich dachte, das habe ich verdient.
[…]
(Kettering 2023, S. 71)
Kritik
Das Stück Glanz handelt von einer außergewöhnlichen, verführerischen Biografie: Reich werden und Anerkennung erhalten durch Betrügereien, und sich an einer Gesellschaft ausprobieren, in der der Schein oft mehr gilt als das Sein. Ketterings Stück zielt aber nicht auf die Erzählungen der High Society, sondern auf vier junge Menschen, denen die Versprechungen eines Lebens in Luxus als Wunschvorstellung dient. Gerade die ambivalente Figur der Anna Delvey bietet sich dem jugendlichen Publikum als zwiespältige Identifikationsfigur an, als Lebensmuster, das kritisch beleuchtet werden sollte.
"Aber sie trug doch so oft Gucci!" übertitelte das Magazin "Fluter" einen Beitrag über Anna Sorokin, alias Anna Delvey. (Eine Assoziation zu Gottfried Kellers Novellentitel "Kleider machen Leute" stellt sich dabei her.) In dem Artikel von Sabine Kray werden detailliert die Kredit- und Trickbetrügereien der realen Anna Delvey in New York und Marokko beschrieben. In der Beurteilung der Taten, der Schuldfrage bleibt der Beitrag ambivalent:
Vielleicht hat Anna tatsächlich die Absicht, eines Tages alle Schulden zu begleichen. Vielleicht ist sie wirklich davon überzeugt, dass sie ihren Kunst- und Kulturraum, der ihr bis ins kleinste Detail vor Augen schwebt, bald zur Millionärin macht. (Kray 2022, S. 41)
Christina Kettering, die die Quellen zum Leben von Anna Delvey ausführlich studiert hat, hält sich mit einer Beurteilung der Schuldfrage ebenso zurück. In dem Stück ruht ihr Fokus auf Annas festem Willen, ihre Idee der Kunststiftung umzusetzen. Diese Umsetzung schwebt ihr detailliert vor:
ANNA
Ein historisches Gebäude an der Park Avenue
520 Quadratmeter, 6. Stock, Kaufpreis 100 Million.
Verzierte Außenfassade. Neuzehntes Jahrhundert
Classy
Unten kommt eine deutsche Bäckerei rein. Oben eine Bar. Dazwischen ein interdisziplinärer Art Space. Exklusiver Privatclub.
Weltklasse Kunstsammlung.
Jeff Koons ist bereits interessiert.MAVIE
Das klingt nach totalem IrrsinnLENNY
GrößenwahnsinnigANNA
Ich schaffe es allein.
Die Kunststiftung. Ist mein Projekt.
Soll keiner reinreden.
Keiner soll sagen.
Die Kleine.
Das Mädchen.
Die weiß ja nicht, wie.(Kettering 2023, S. 32 f.)
Anna begreift den Besuch von Partys und Empfängen, den Smalltalks sowie das Knüpfen von Verbindungen als harte Arbeit. Die Akquise einer größeren Summe Geldes ist ihr Ziel, das sich nicht mit "Wodka Lemon am Pool schlürfen" (Kettering 2023, S. 52) erreichen lässt. Als Heldin im klassischen Sinne sieht die Autorin ihre Protagonistin sicherlich nicht, aber als eine Person mit großer Ausstrahlung und hohem Talent und Potential für Kontakte und Verführungen.
Eindeutiger fallen die Charaktere der beiden Figuren Mavie und Lenny aus. Hier betreten die Opferrollen die Bühne, hier wurde Vertrauen und Gutgläubigkeit missbraucht. In diesen beiden Figuren sind auch die pädagogischen Potentiale des Stückes zu finden: Wieweit geht eine Freundschaft, wann bemerke ich, dass ich ausgenutzt werde, woran erkenne ich Wahrheit und Betrug?
Die Erfahrung, dass eine Situation anders aussieht, je nachdem von welcher Seite her ich sie betrachte, kennen alle, die einmal vom angestammten Platz im Klassenraum aufgestanden sind und sich hinter das Lehrerpult gestellt haben. Von hier sieht die Welt echt anders aus! (Henne 2023, S. 2)
Annas Satz zu Lenny "Warum machst du nicht das, was du willst" (Kettering 2023, S. 16) verfängt natürlich bei dem nach Orientierung suchenden Jugendlichen. Am Ende des Stückes sieht Lenny die fristlose Kündigung seines Jobs an der Hotelrezeption nicht als Strafe, sondern als eine Chance:
Ich hätte selbst viel früher den Mut haben sollen, zu kündigen und um mein eigenes Ding zu machen. Wie du immer sagst. Man muss ein Risiko eingehen, um seine Ziele zu erreichen. Die Comfort Zone verlassen. Ja. Also. Du hast mir quasi geholfen, aus der Comfort Zone rauszukommen. (Kettering 2023, S. 68)
Das Stück ist in Sprache und formalem Aufbau anspruchsvoll entwickelt. Die Dialoge werden in kurzen, knappen Sätzen einer alltäglichen Sprache geführt. Die Autorin lässt in dieser Welt des ständigen Agierens keinen Platz für Ruhe oder Emotionen. Stattdessen geht es immer voran, stakkatohaft, flüchtig, auf der Suche nach dem nächsten Event. Dem gegenüber stehen die monologischen "Pfade" der Figuren. In diesen wird die Handlung angehalten und Einblick in die Gemütslagen und Beweggründe der Figuren gegeben. Diese “Pfade“, insgesamt vier für jede Figur, können laut Autorin "beliebig eingesetzt werden, d.h. an anderen Stellen, gar nicht, parallel, medial etc.". (Kettering 2023, S. 3) Dass im letzten Teil des Stückes, die Personen haben sich inzwischen voneinander isoliert, ausschließlich über Chats und Videocalls, also auf digital Weise kommuniziert wird, kann als gelungenes Bild für die Entfremdung der Freunde angesehen werden.
Fazit
Besondere Aufmerksamkeit bei jungen Erwachsenen erhielt die Geschichte um Anna Delvey durch die 2022 von Netflix verfilmte, auf wahren Ereignissen basierende Dokureihe "Inventing Anna". In neun 1-stündigen Filmepisoden (Staffel 1) deckt eine Journalistin Annas Hochstapelei auf. Personen aus ihrem Umfeld schildern Annas Weg in die Society, ihren Lebensstil, ihre Betrügereien aber auch ihre Verblendung bis hin zur Verurteilung und Gefängnisstrafe. "Theater im Norden zeigt "Netflix" Kracher auf der Bühne" titelte die Hamburger Morgenpost entsprechend zur Bremerhavener Uraufführung.
Das Narrativ, dass man nur die richtigen Leute kennen muss um den eigenen gesellschaftlichen Aufstieg zu schaffen und dass dabei Tricks und Betrügereien zum Geschäft gehören, das macht Glanz zu einem diskussionswürdigen Stück. Junge Menschen, auf der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft und der Frage nach Recht und Moral, werden angesprochen und zur Meinungsbildung aufgefordert. Die Person der Anna Delvey und ihrer Geschichte ist aufgrund ihrer Vermarktung, insbesondere durch die Netflix-Dokuserie "Inventing Anna" den Jugendlichen bekannt. Auch wenn die Autorin im Vorwort betont "[…] dennoch sind die auftretenden Figuren fiktiv" (Kettering 2023, S. 3) liegt die Faszination des Stückes an seinen wahren, von den Jugendlichen wiedererkannten Personen und Inhalten.
Literatur
Henne, Bianca Sue: Perspektivwechsel. In: Programmblatt Glanz, S. 2, Junges Theater Bremerhaven, 2023
Kettering, Christina: Glanz. München: Drei Masken Verlag, 2023 (UA: Junges Theater Bremerhaven, 16. 9. 2023)
Kray, Sabine: Aber sie trug doch so oft Gucci!“ In: Fluter, Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung, Nr. 81, 2022 https://www.fluter.de/sites/default/files/fluter_no.81_s.40-41.pdf
Katie Lowes: Inventing Anna, Netflix, 2022
Williams, Rachel DeLoache: My friend Anna, New York: Gallery Books, 2019
Abbildungen
Abb. 1 Porträtfoto Christina Kettering, Foto: Maria Zillich
Abb. 2 Junges Theater Bremerhaven Glanz, Foto: Manja Herrmann
- Name: Kettering, Christina