Inhalt
Die Geschichte lässt sich gut aus seiner Mitte heraus erzählen: Die Autorin wendet sich in einem Brief direkt an die anwesenden Schülerinnen und Schüler.
Am Anfang ist es nur eine Idee. Eine Idee, die sich wünscht, verfolgt zu werden. Also: Es gibt eine Theorie, die besagt, dass alle Klänge, Stimmen und Geräusche, die jemals in einem Raum existierten, immer noch in diesem Raum präsent sind....Ich mag die Vorstellung, dass Räume ein Gedächtnis haben... (S. 21 f.)
Es geht in dem Stück um "Klänge, Stimmen und Geräusche", um das Rauschen im Raum, um die Kraft und Macht der Worte und der Sprache. Aber wie beginnen? Mit dieser Frage betreten zwei Schauspielerfigurendas Klassenzimmer, ihre Bühne. Es beginnt ein Wettstreit sich überbietender Begrüßungsworte. "Hi?, Hej?, Hoi? Oi?, Olá? Hello, Bonjour?...". Schnell wechseln die beiden auf die Gegenstände im Raum, wechseln zu ihrer "Freude am Entdecken": Heft Tafel Tür Tisch Stuhl ..." (S. 5) um sich dann auf eine "Suche nach Lieblingswörtern" (S. 6) zu begeben: "amore, Mutter, Muttersprache, Sprache, Scham..." (S. 6). Die Schülerinnen werden einbezogen: "Jede Person wählt ihr Lieblingswort in ihrer bevorzugten Sprache aus" (S. 7). Diese können laut oder leise, allein oder gemeinsam gesprochen werden. Ein Klatschen der Spieler bedeutet "Stopp", das Sprechen wird unterbrochen. Nun herrscht Ruhe, Zeit zum Nachlauschen und Raum für eine neue Geschichten.
Und wieder setzen die beiden Darsteller:innen neu an.
Wollen wir?
Sollen wir?
Können wir!
(...)Schweigen
Und?
Was kommt jetzt?
Fragt sich die eine oder der andre.
Sagen wir die Mehrheit.
Die Mehrheit will wissen, was jetzt kommt.
Einige wissen es schon
Manche ahnen es nur.
(...)
Alles, was jemals gesagt worden ist, ist hier. Aber auch alles, was jemals gedacht worden ist, ist hier. Hier in diesem Raum. Wir haben sie eingefangen und wir haben sie festgehalten und wir haben sie niedergeschrieben. Die Gedanken im Raum, meine ich. Die ungesagten. Die unsagbaren. (S. 12)
Themenwechsel. Thema "Schule". Es wird über die Schulzeit der Autorin im Iran berichtet ("Bei ihr in der Klasse mussten alle Schülerinnen Kopftuch tragen" (Soofipour Omam 2023, S. 15), verbunden mit der Frage an die Schülerinnen und Schüler, "Was sie alles an der Schule schlimm finden..." (S. 15). Die Autorin kommt indirekt zu Wort.
Das frühe Aufstehen am Morgen
Der morgendliche Appell mit politischen Parolen
Mathe
Mobbing
(...)
Frau Nairi, ihre Lehrerin in der dritten Klasse
Boah, die Frau war echt schlimm. Ich will gar nicht wissen, wie viele Kinder diese Frau im Laufe ihres Berufslebens traumatisiert hat. So eine Psychopathin.
Oder die Religionslehrerin in der Oberschule. Ihren Namen hat sie vergessen, aber ihre Worte leider nicht.
Der falsche Geschichtsunterricht mit einseitiger politischer Propaganda.
(...) (S. 15)
Ein Brief der Autorin wird verlesen. Der Brief bietet der Klasse Impulse für diverse Spielanlässe. Er sensibilisiert für Fragen nach der Muttersprache, nach dem Erlernen einer neuen Sprache, nach der Flucht aus seinem Heimatland. Im abschließenden Teil des Stückes werden Sätze unter den Schülerinnen und Schülern verteilt. Sie dürfen gesprochen werden, sie sollen Stimmen erhalten. Zettel werden verteilt. "Das Ende schreibt ihr. Ihr alle, die gerade im Raum sind. Schreibt einfach einen Satz auf, der euch die ganze Zeit begleitet oder der euch gerade durch den Kopf geht." (S. 30) Die Autorin bedankt sich bei den beiden Darstellern und bittet sie:
Liebes Team, nochmals vielen Dank, dass ihr diese ermöglicht habt. Ich hoffe, ihr hattet auch Spaß dabei. Eine letzte Bitte: Nehmt die Sätze der Schüler:innen mit. Vielleicht zur nächsten Aufführung in der nächsten Klasse. Bitte achtet darauf, dass sie sorgfältig archiviert werden, und sendet sie anschließend an meinen Verlag. Ich freue mich bereits darauf. Liebe Grüße Matin (S. 30 f.)
Kritik
Der Aufbau des Stückes mit seiner direkten Ansprache der Autorin an das darstellende Team sowie an das Publikum ist innovativ für die Stücke des Theaters für das Klassenzimmer. Die ungewohnte Dramaturgie mit narrativen Textteilen, knappen, sich wiederholenden Dialogpassagen und der Übertragung von Verantwortung für den Handlungsfortgang ans Publikum wirft Fragen auf. Wieweit lassen die Regeln, die durch die beiden Darsteller im Stück vertreten werden, dem Publikum Freiheiten für eigene Improvisationen? Wie sind die Machtverhältnisse in diesem als interaktives Spiel intendiertes Stück verteilt zwischen Text, Darsteller und Publikum? Wie flexibel kann aus dem geschriebenen Stück heraus je nach Situation reagiert werden? In ihrem ersten Brief scheint sich die Autorin dieser Fragen bewusst zu sein: "Und ja, ihr wisst schon, keine Vorstellung ist wie die andere. Dieses Stück kann nicht anders." (S. 4)
Badisches Staatstheater Karlsruhe Raumrauschen mit Laman Leane Israfilova, Hadeer Hando. Foto: Arno Kohlem
Das Theater im Klassenzimmer entstand Anfang der 2000er Jahre als neue Gattung im Kinder- und Jugendtheater und brachte es mit einzelnen Stücken zu großen Aufführungszahlen und -erfolgen. Wie kein zweites, adressiert sich dieses Theater an ein Zielpublikum: die Schülerschaft, der die Welt des Theaters direkt nähergebracht werden soll. Folgerichtig spielt das Thema Schule, so wie auch in Raumrauschen, in maßgeblichen Klassenzimmer-Stücken eine wichtige Rolle (siehe Klamms Krieg von Kai Hensel, 2002, Erste Stunde von Jörg Menke-Peitzmeyer, 2006). Diese Stücke vertraten den Anspruch, das Klassenzimmer als Bühne(nraum) inszeniert zu bespielen und nicht als Experimentierfeld für Improvisationen oder Interaktionen zu nutzen. Raumrauschen geht hier neue Wege. Inhaltliches und ästhetisches Ziel dieser neuen Gattung, mit seinen Vorläufern im niederländischen Kinder- und Jugendtheater, beschreibt der Theaterwissenschaftler Manfred Jahnke wie folgt:
Es geht heute nicht mehr allein darum, Kinder und Jugendliche in Vor- und Nachbereitungen auf die ästhetischen Besonderheiten einer Aufführung hinzuweisen, sondern es geht darum, dem jungen Publikum spielerisch durch Selbsterfahrungen die Möglichkeiten des Theaters für die eigene Lebenspraxis deutlich zu machen. (Jahnke 2009, S. 222)
Der Begriff der "Selbsterfahrung" steht auch in dem Stück Raumrauschen im Zentrum, und zwar im doppelten Sinn: Die jungen Zuschauerinnen und Zuschauer erfahren sich während der "Aufführung" auf ungewohnter Weise und im besten Fall neu. Durch das Angebot der Schauspielerinnen oder Schauspieler, schreien zu dürfen und dann zu schweigen, überwinden sie Konventionen des Schulalltags und können diese hinterfragen. Nicht minder regt das Stück die Schüler und Schülerinnen dazu an, über Sprache nachzudenken, sie durch Schreibübungen zu erproben, sich für Lieblingsworte zu entscheiden, Lieblingssätze zu präferieren.
Der Begriff der Selbsterfahrung gilt in diesem Stück aber auch für die Autorin. Sie reflektiert ihr Schreiben.
Also. Das Theaterstück, das ich gerade zu schreiben versuche und ihr gerade zu verstehen versucht, folgt einer Idee. Ja. Es ist erstmal nur eine Idee, ob es eine gute Idee ist, weiß ich noch nicht. So läuft es halt mit dem Schreiben. Am Anfang gibt es nur eine Idee. Eine Idee, die sich wünscht, verfolgt zu werden. (Soofipour Omam 2023, S. 21)
Neben der Intention der Autorin, ein partizipatives Theaterstück zu schaffen, also die Einbeziehung sogenannter Amateure in das professionelle Theater, wie es das Junge Theater Basel seit Jahrzehnten vorbildlich betreibt, sollte für das Stück Raumrauschen auch der Begriff eines interkulturellen Theaters gelten. Die Autorin mit ihrer erlebten Kindheit im Iran thematisiert diese anhand ihres Neuanfangs in Deutschland mit dem Erlernen seiner Sprache. Diese geschilderten Lebenserfahrungen werden viele der zuschauenden Kinder teilen.
Das Einzige, was ich immer gut konnte, war das Spiel mit Worten. Im Umgang mit Sprache. Meiner Muttersprache, meine ich. Aber dann habe ich mein Land verlassen und kam hierher. Nach Deutschland und ich mußte Deutsch erst lernen. Ihr könnt euch bestimmt vorstellen, wie schwer es mir fiel. Ich fühlte mich von der Sprache verlassen... (Soofipour Omam 2023, S. 18)
Somit kann Raumrauschen als ein gesellschaftlich engagiertes Stück verstanden werden, wenngleich man sich eine intensivere Darstellung der interkulturellen Konflikte, die viele der anwesenden Schülerinnen und Schüler selber erfahren, gewünscht hätte. Zur Verleihung des Deutschen Kindertheaterpreises 2024 hob die Laudatorin Iwona Nowacka diese Relevanz des Stückes hervor: "Und während ich hier in diesem Raum stehe, kann ich nicht anders als mich festzuhalten. An dieser Hoffnung. Dass Theater tatsächlich ein Ort sein kann, an dem Demokratie erfahrbar wird. Ein Ort der Begegnung. Ein Ort der Relevanz. Ein Ort, der Teilhabe ermöglicht. Ein Ort, der in den Köpfen anfängt und Menschen – jung und alt und alles dazwischen – ermächtigt Räume mit Leben zu füllen".
Fazit
Die Autorin ist Theaterpraktikerin. Nach ihrem Studium der Literatur und des Szenische Schreibens im Teheran und Berlin war sie als Theaterpädagogin und Dramaturgin am renommierten Grips-Theater in Berlin sowie am Jungen Düsseldorfer Schauspielhaus tätig. Seit 2023 leitet sie die Abteilung Dramaturgie am Berliner Theater an der Parkaue. Raumrauschen zeugt von diesen theaterpraktischen Erfahrungen. Es bietet vielfältige Spielanlässe, stellt aktuelle Begriff wie partizipatives, interkulturelles oder interaktives Theater ins Zentrum. Dem Repertoire der Stücke für das Klassenzimmer bietet Raumrauschen einen innovativen Zuwachs.
Literatur
Omam, Matin Soofipour: Raumrauschen. Felix Bloch Erben. Berlin 2023
Jahnke, Manfred: Ein magischer Ort? Theater im Klassenzimmer. In: Wolfgang Schneider (Hg.): Theater und Schule. Ein Handbuch zur kulturellen Bildung. Bielefeld: transcript 2009.
Nowacka, Iwona: Laudatio Raumrauschen zum Deutschen Kindertheaterpreis 2024. Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 2024 (unveröffentlichtes Manuskript)
Abbildungen
Abb. 1 Matin Soofipour Oman. Foto: Lena Ganssmann
Abb. 2 Badisches Staatstheater Karlsruhe Raumrauschen, Foto: Arno Kohlem
- Name: Soofipour Omam, Matin
