Vielen Dank an meine ehemalige Kommilitonin Jung Min Lee, MFA, für die Recherche auf koreanischen Websites und Übersetzung aus dem Koreanischen und ins Koreanische, so war der Kontakt mit der Autorin-Illustratorin ZO-O möglich! Im Folgenden werden diese Übersetzungen gekennzeichnet mit "JML".

zo o ecke abbAbb. 1: Doppelter Blick ins Buch: Der Knick der Doppelseite von Die Ecke wird zeichnerisch durch die Parallelperspektive und Schattierung betont und so auch aufgeschlagen zu einer Ecke (ZO-O: Die Ecke, o. S., Quelle: HG)

Einleitung

Über die Krähe/Illustratorin

Auf Instagram bezeichnet die Autorin-Illustratorin von Die Ecke sich selbst als „Crow/Illustrator“ (Krähe/Illustrator*in, HG) und beschreibt sich mit: „그림 그리고 책 만드는 까마귀“ – das heißt: „Eine Krähe, die zeichnet und Bücher macht“ (JML). Auf die besondere Bedeutung der Krähe verweist auch der Künstler*innen-Name der Autorin-Illustratorin: „ZO-O“, vom Verlag Urachhaus mit „Krähen-Zoo“ übersetzt. Auf Nachfrage erklärt die Autorin-Illustratorin, dass der Name seinen Ursprung in einem Studienprojekt hat, das ihr sehr am Herzen lag: Eine Krähe, die einen Zoo organisiert, aber nicht für Menschen, sondern für Tiere. Der Projektname Krähen-Zoo wurde zu ihrem Social-Media-Namen, und die Autorin-Illustratorin hat sich dazu entschieden, diesen Namen als Künstler*innen-Namen weiter zu verwenden. Ihr Familienname kann nämlich im Englischen mit den Buchstaben „Zo“ verschriftlicht werden, und „O“ bedeutet „Krähe“ in chinesischen Schriftzeichen: „ZO-O“ war so sowohl mit dem Namen der Autorin-Illustratorin als auch ihrem Social-Media-Namen verbunden. ZO-O gewann in Südkorea den ersten Preis beim Wow-Bookfest, in Deutschland wurde ihr Bilderbuch Die Ecke von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e.V. Volkach als Buch des Monats Dezember 2021 ausgezeichnet.

Über das Buch mit der Krähe

Die Ecke, im Koreanischen Original „나의 구석“ (Meine Ecke, JML) ist das erste Buch der Autorin-Illustratorin ZO-O, das in Deutschland erschienen ist. Der wenige Text, mit dem Die Ecke auskommt, wurde von Michael Stehle aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Die Ecke ist außerdem das erste Buch der Autorin-Illustratorin, das in einem kommerziellen Verlag veröffentlicht wurde. (Vgl.https://brunch.co.kr/@happyreading/238: „‚My Edge‘ war das erste ‚kommerziell‘ veröffentlichte Buch ZO-Os, davor hatte sie zwei andere Independent-Buchprojekte: ‚까막별 통신‘ (communication by black star) und ‚안녕 올리‘ (Hi Ollie/Dear Ollie)“, JML.) In Korea hat sie mit Crowdfounding bereits zwei Buchprojekte realisiert, und zwar die Bilderbücher „까막별 통신“ (etwa: Kommunikation auf dem schwarzen Stern, JML) und „안녕, 올리“ (etwa: Hi Ollie/Dear Ollie, JML). Alle diese Bilderbücher sind flächig mit Bleistift und Buntstift illustriert, reduzierter Farbigkeit, und immer taucht eine Krähe auf, teilweise begleitet von einer weißen Ente (Ollie) oder einer weißen Katze. (Vgl. auch die Ausstellungsansichten ihrer Illustrationen auf Instagram: https://www.instagram.com/p/CMB83jNsW13/ und https://www.instagram.com/p/BUJe8XqlmpV/.)

Zur Finanzierung der Projekte gab es zu den ersten beiden Bilderbüchern von ZO-O auch einzelne Szenen der Geschichten als Postkarten, Poster, Druck auf Stoff und auch als Mobile (siehe https://tumblbug.com/kkamakbyeol und https://tumblbug.com/dearollie). Hier zeigt sich bereits ZO-Os Interesse an dem Buch als architektonisches Objekt , dass auch Schwerpunkt in Die Ecke ist:

Abb. 2: Die Geschichte „안녕, 올리“ (Dear Ollie) gab es im Crowdfounding neben dem klassischen Bilderbuch auch als Serie aus drei Miniatur-Leporellos, die jeweils zu einem Mobile aufgefächert und aufgehängt werden können. (Quelle: ZO-O 안녕, 올리, Abdruck mit Erlaubnis der Autorin-Illustratorin)Abb. 2: Die Geschichte „안녕, 올리“ (Dear Ollie) gab es im Crowdfounding neben dem klassischen Bilderbuch auch als Serie aus drei Miniatur-Leporellos, die jeweils zu einem Mobile aufgefächert und aufgehängt werden können. (Quelle: ZO-O 안녕, 올리, Abdruck mit Erlaubnis der Autorin-Illustratorin)

Inhalt: Krähe bewohnt Ecke

Krähen und andere Rabenvögel gelten als intelligente, neugierige und einfallsreiche Wesen und hatten ihre Auftritte als Unglücksboten, Verwandlungskünstler oder magische Begleiter in Mythen, Erzählungen, Sagen, Fabeln und Märchen auf der ganzen Welt. Sie sind bekannt in der barocken, romantischen und expressionistischen Lyrik und machten sich auch in Kinderbüchern einen Namen, wie z. B. als Rabe Abraxas in Preußlers Die kleine Hexe oder als der kleine Rabe Socke in Moosts und Rudolphs gleichnamiger Reihe. Die Krähe in Die Ecke ist nicht sehr mysteriös oder fantastisch, sondern entgegen ihrer Natur erstmal vor allem eins: allein. Begleitet wird sie zunächst nur von der wachsenden Pflanze, die durch ihre Wichtigkeit in der Geschichte der Krähe schon fast die Funktion einer Nebenfigur einnimmt.

Das Cover zeigt eine Krähe, die den Buchtitel in eine Gebäudeecke schreibt – im koreanischen Original von oben nach unten, in der deutschen Ausgabe von links nach rechts. Im Koreanischen ist das direkte Beschriften der Wand eine Art Reviermarkierung, denn hier heißt der Titel in etwa „Meine Ecke“ (JML). Die Krähe steht zum Schreiben auf einer Leiter, das zeigt direkt, wie menschlich die Krähe ist: Statt einfach zu fliegen, muss sie auf eine Leiter steigen, was sie auch in dem Buch noch öfter tun wird.

Abb. 3: Cover der deutschen Ausgabe (ZO-O Die Ecke, Cover, und ZO-O 나의 구석, Cover, Quelle: xy und © ZO-O // Verlag Urachhaus)Abb. 3: Cover der deutschen Ausgabe ZO-O Die Ecke, Cover. Quelle: © ZO-O // Verlag Urachhaus)

Die Krähe wird auf dem Cover in ihrer grauen Ecke von einem hellgelben Lichtstrahl beleuchtet – und in dem Lichtstrahl ist ein seltsamer Schatten zu erkennen, der sich später als Teil einer Ente identifizieren lässt. Denn dieser begegnet die Krähe, als sie am Ende der Geschichte aus dem selbst gebauten Fenster ihrer Ecke schaut. In ihrer Ecke wird es der Krähe nämlich doch zu langweilig – obwohl sie es sich mit der Zeit dort richtig gemütlich gemacht hat: einer Pflanze beim Wachsen zuschauen kann, auf ihrem flauschigen Teppich zur Musik tanzt und in ihren Büchern liest. Ein Buch mit dem Titel „Windows“ (Fenster, HG) inspiriert die Krähe besonders: Hier sind Innenräume abgebildet, zu dem Zeitpunkt, an dem farbige Flächen vom Sonnenlicht auf Boden und Wände gemalt werden, unterbrochen und gerahmt von Fenstersprossen. Im christlichen Kulturkreis sind die kleinteiligen bunten Formen, die von Lichtstrahlen durch bunte Kirchenfenster auf Boden und Wände geworfen werden, wohl die bekanntesten Lichtflecken. Als die Krähe monochrome warmgelbe Flächen unterschiedlicher Formen an die Wände ihrer Ecke zeichnet, bekommt ihre Ecke so schnell einen sakralen Charakter.

Abb. 4: Das gezeichnete Sonnenlicht reicht der Pflanze anscheinend zum Wachsen (ZO-O Die Ecke, o. S., © ZO-O // Verlag Urachhaus)Abb. 4: Das gezeichnete Sonnenlicht reicht der Pflanze anscheinend zum Wachsen (ZO-O Die Ecke, o. S., © ZO-O // Verlag Urachhaus)

Fertig ist die Krähe erst, als die zwei Wände der Ecke komplett bedeckt sind – dann holt sie, perfekt heimwerklich ausgestattet, ihren Trennschleifer und sägt sich kurzerhand ein Fenster in die Wand. Die Möbel sind davor abgedeckt worden, und der Dreck wird direkt nach der Aktion aufgefegt und eingetütet. Es ist nicht klar und auch nicht wichtig, welchem Geschlecht sich die Krähe zuordnet – ihre Ordentlichkeit und Voraussicht lassen sie aber auf jeden Fall nicht kindlich, sondern sehr erwachsen wirken. Die Krähe geht nicht arbeiten oder einkaufen, aber sie weiß, wie sie einen Trennschleifer benutzt, und man bekommt das Gefühl, sie könnte sich auch um den Stromvertrag selbst kümmern. Nach erfolgreichem Fensterbau genießt die Krähe ihren jetzt echten Lichtflecken, hellweißgelb durch die neue rechteckige Wandöffnung fallend. Daraus schaut sie auf der nächsten Doppelseite. Zum ersten Mal sehen wir dabei die Ecke von der anderen Seite und beobachten nicht mehr die Krähe, sondern die weiße Ente, die gerade in das Buch hinein und am Fenster der Krähe vorbeispaziert. Die beiden grüßen sich ­­– und hier ist die Geschichte zu Ende. Das Buch geht noch eine Doppelseite weiter, mit zwei quadratisch gelayouteten Texten, zur Autorin und zum Buch, einer Fotografie der Autorin zwischen Birkenstämmen in einem Raum und einer kleinen Illustration der Zimmerpflanze. Nach den sehr dezenten einzelnen Wörtern auf den vorangegangenen Seiten, wirkt dieser Erklärtext einerseits zu viel, andererseits durch das Layout sehr zurückgenommen.

Ob die Krähe wie im Lockdown nicht nach draußen darf, oder warum sie sonst eine Ecke bezieht, statt sich in luftigen Baumwipfeln ein Nest zu errichten, bleibt offen. Im ganzen Buch gibt es keinen Himmel, wir schauen wie eine Überwachungskamera von oben herab in die Ecke der Krähe. Die läuft in die Ecke herein und aus ihr heraus, zum Beispiel um ihre Leselampe an den Strom anzuschließen. Der Strom muss also aus unserem Raum kommen, denn wenn die Krähe herausläuft, ist sie außerhalb des Buches…

Wir klappen das Buch und damit die Ecke zu, die Krähe ist vielleicht gerade auch draußen, mit der weißen Ente unterwegs.

Wissenschaftliche Rezeption

Die Geschichte als (Innen-)Architektur eines Buches

Der mexikanisch-niederländische Künstler Ulises Carrión fordert mit einem poetischen Essay The New Art of Making Books [El arte nuevo de hacer libros, 1975] (Carrión 1980; im Folgenden abgekürzt mit Sigle C) dazu auf, Bücher nicht nur als Textbehälter, sondern als dreidimensionale Objekte zu sehen (vgl. Carrión 1980: 8, 12 f.; vgl. Geisler 2019, unveröffentlicht). Auf den Punkt gebracht wird das in Julliens Pappbilderbuch: Das ist kein Buch [This is not a book, 2016], was die Tradition des Wiedererkennens und Benennens von abgebildeten Gegenständen in der Einstiegsliteratur aufgreift (vgl. dazu Kümmerling-Meibauer 2012: 73). Auch ZO-O begreift mit Die Ecke das Buch nicht nur Behältnis für Text und Bild, sondern selbst als Form. Eine Form, die, meistens zugeklappt, ihre Zeit als wichtigster Bestandteil von Bücherregalen oder Bücherstapeln verbringt, und dabei nur ihren Buchrücken zeigt. Beim Lesen, Blättern also, wird die Form aber lebendig: Sie verändert sich ständig, wichtig ist nun der Zwischenraum, der sich beim Blättern öffnet und schließt. Carrión beschreibt das Buch deshalb als eine zeitliche Abfolge von Räumen (vgl. Carrión 1980: 6). Die Idee, dass mit dem Aufschlagen jeder neuen Doppelseite ein neuer Raum geöffnet wird, begegnete auch schon den Leser*innen der Bilderbücher Toc toc (1945 von Bruno Munari) und Klopf an! (Knacka på!, 1992 von Anna-Clara Tidholm, nominiert für den Jugendliteraturpreis 1994). In ersterem gibt es in jedem Raum einen neuen, kleineren Raum, zum Beispiel einen Koffer, der aufgeblättert wird, und in Tidholms Bilderbuch wandert man beim Lesen durch ein ganzes Haus. Toc toc und Klopf an! sind beide als Geschichten Metaphern des Umblätterns, das neue Räume eröffnet, bis die Geschichte zu Ende ist – und so auf alle literarischen Werke, mit denen neue, oder spätere Imaginationsräume eröffnet werden, übertragbar. Bei ZO-Os Die Ecke bleibt der illustrierte Raum immer derselbe, obwohl mit dem Umblättern ein neuer Raum eröffnet wird. Statt gespannt zu sein, welcher Raum nun geöffnet wird, stellt sich hier beim Umblättern die Frage, wie der Raum sich verändert hat. ZO-Os Buch wird beim Blättern im Gegensatz zu Toc toc und Klopf an! nicht Architektur, sondern Innenarchitektur: Seiten bilden als Wände eine Ecke, die das Buch als Hardcover auch tatsächlich stabil bilden kann, eine Ecke, in der die Krähe sich wohnlich einrichtet.

Buchmerkmale als Ausgangspunkt einer Geschichte

Gerade in Bilderbüchern wird die Form „Buch“ oft selbstreflektiert und zitiert, um junge Menschen nicht nur an Geschichten, sondern auch an das ästhetische Lesen und das Medium Buch heranzuführen (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012: 21). Seltsame Merkmale von Büchern (wie die Löcher in Carles Die kleine Raupe Nimmersatt [The Very Hungry Caterpillar, 1969] oder Torseters Das Loch [Hullet, 2012]) und typische Merkmale von Büchern (wie der Spalt zwischen den Seiten einer Doppelseite (in Byrnes Hilfe, dieses Buch hat meinen Hund gefressen! [This Book Just Ate My Dog, 2014] und Reeds Lea und Finn langweilen sich [2022]) werden zum Ausgangspunkt von Geschichten. In Die Ecke wird der Falz in der Mitte jeder Doppelseite buch-architektonisch gedacht und mit Schatten zu beiden Seiten noch betont. Dass das Buch beim Blättern immer wieder selbst eine Ecke bildet, wird durch die Parallelperspektive der Raum-Illustration gestützt, denn so gibt es auch aufgeschlagen die Illusion einer Ecke:

 Abb. 5: Die Illustration einer Doppelseite, die gezeichnete Ecke fällt in der Druckausgabe mit der Ecke des aufgeschlagenen Buches zusammen (ZO-O: Die Ecke, o. S., © ZO-O // Verlag Urachhaus)Abb. 5: Die Illustration einer Doppelseite, die gezeichnete Ecke fällt in der Druckausgabe mit der Ecke des aufgeschlagenen Buches zusammen (ZO-O: Die Ecke, o. S., © ZO-O // Verlag Urachhaus)

Die Leerstellen zwischen dem Aufschlagen und Umblättern einer Seite werden mit der Überlegung gefüllt, was die Krähe wohl als nächstes heranschleppt, um es sich richtig gemütlich zu machen (vgl. zu Leerstellen Volz/Schröder 2016). Durch die wiederholte Tätigkeit des Umblätterns werden die Illustrationen gestützt, denn wie bei einem Daumenkino bleibt der Hintergrund immer gleich, während kleine Elemente (bzw. Möbelstücke) mit dem nächsten Umblättern dazu kommen – oder wachsen, wie die Topfpflanze, die von der Krähe gegossen, oder die Lichtflecken, die von der Krähe gezeichnet werden.

Über die Notwendigkeit von Text im Buch

Das Buch Die Ecke fällt durch sein sehr gestrecktes Hochformat auf: Etwas zu groß für einen Gedichtband, und doch sich darauf beziehend (was aber wohl eher eine Tradition der Erwachsenenpoesie ist): Die In-sich-Gekehrtheit der Krähe wird von ihren Tätigkeiten auf jeder Doppelseite als ein Moment präsentiert – wie sie liest, tanzt, singt, isst, denkt. Die Momente, an denen tatsächlich Worte auftauchen, sind fast störend, tatsächlich nicht sehr poetisch (was aber im Original vielleicht anders wirkt). Die teilweise schriftgewordenen Gedanken der Krähe verweisen auf die Gemachtheit des Buches, denn wir können durch die Krähe die Illustratorin fragen hören: „Irgendetwas fehlt hier noch..“. Die Worte trauen sich nicht so richtig Teil des Buches und der Geschichte zu werden, sind perspektivisch verzerrt wie die ganze gezeichnete Ecke, versuchen sich zu verstecken und sind als Metaebene doch eher störend. Oder zeigt sich hier die Einsamkeit der Krähe, die ihre Zimmerpflanze um Rat fragt, aber eigentlich Selbstgespräche führt?

Eine*n Kommunikationspartner*in innerhalb des Buches hat die Krähe erst mit der Ente am Ende, zwischen drinnen und draußen wird ein „Hallo“ ausgetauscht. Diese beiden Worte, unterschieden mit einem Frage- und einem Ausrufezeichen, sind in ihrer Einfachheit sehr kraftvoll und beginnen eine neue Geschichte, die sich die Leser*innen selbst ausdenken.

Vom Blättern zum Lesen – Selbstreflexivität in der Kinderliteratur

Bei Die Ecke gibt es einige Bücher im Buch, die im Regal stehen, oder gelesen werden. Entsprechend älter ist auch die Zielgruppe: Während z. B. Julliens Pappbilderbuch Das ist kein Buch eher ein Spielzeug ist, was alles kann und zufällig auch lesbar ist, betont ZO-O mit Die Ecke das stille, meist sitzende Für-sich-Lesen. Der Krähe ist das selbst sehr wichtig, denn direkt nach dem Sofa, was sie in ihre Ecke schiebt, richtet sie sich die Ecke mit einem Teppich, Bücherregal, Bücherstapel und Leselampe als Leseecke ein. Die Krähe hat Bücher mit den Titeln WOOD (Holz, HG), CONCRETE (Beton, HG), BRICK (Ziegelstein, HG) und noch andere, mit unlesbarem Titel, im Regal stehen. Am häufigsten schaut sie in das Buch Windows (Fenster, HG), in dem die Verfasserin dieser Analyse selbst gerne blättern würde. Beim Über-die-Schulter-Schauen lässt sich Windows als eine Sammlung von Lichtflecken lesen, davon inspiriert zeichnet die Krähe selbst Licht in eckigen Formen an ihre Wände.

Zeichnen im Buch – Entstehung der Geschichte des Buches

Bilderbücher können neben Text(inhalt) und Typografie auch noch mit weiteren gestalterischen Mitteln als auf ihre Gemachtheit verweisen: Mit Illustrationen über das Illustrieren. Anders als zum Beispiel bei Schärers Johanna im Zug [2009, im Folgejahr für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert], wo auch die gezeichneten Hände und der Arbeitsplatz der Illustratorin zu sehen sind, spielt ZO-O als Illustratorin keine Figur ihrer Geschichte – höchstens im übertragenen Sinne: Wie die Illustratorin zeichnet auch die Krähe, und macht den ihr geschaffenen Raum nun noch mehr so, wie sie selbst es will. Die Krähe braucht aber nur einen Stift für die warmgelben Lichtflecken, die Illustratorin überlagert gelb und orange. Das Gezeichnetsein der Krähen-Ecke zeigt sich beispielhaft an ihrem Teppich: Kurze Striche machen den Teppich langhaarig-flauschig, die Richtung der Striche zeigen, wo die Krähe beim Tanzen und Lesen schon Spuren hinterlassen hat.

Populärrezeption: Die Ecke im Lockdown

Das Buch Die Ecke funktioniert am besten, wenn man es selbst allein in einer Ecke liest. Erst das Zuklappen öffnet uns wieder für die Welt da draußen. Da Die Ecke in Deutschland im Lockdown erschienen ist, wurde es als Buch der Stunde rezensiert, etwa im Deutschlandfunk und in der Süddeutschen Zeitung: Auf einmal waren wir alle auf uns selbst und unsere eigenen (zwei bis) vier Wände gestellt. Wie sieht es hier denn aus? Was wollen wir verändern, wie wollen wir uns neu einzurichten, damit uns nicht die Decke auf den Kopf fällt? Das Einrichten nach einem Einzug, der Neuanfang an einem Ort, wo man niemanden kennt, das Selbst-Beschäftigen und dann doch Kontaktknüpfen sind aber sicher Fragen, die auch unabhängig vom Lockdown relevant sind. Die Ecke ist außerdem ein Buch, was die Aufmerksamkeit auf die grundlegenden Möglichkeiten eines Buches lenkt, neben lesen kann man es auch aufblättern, aufstellen, umblättern – und zuklappen.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

  • Byrne, Richard (2014): Hilfe, dieses Buch hat meinen Hund gefressen! [This Book Just Ate My Dog, 2014]. Übers. v. Günther, Ulli und Herbert. Weinheim: Beltz & Gelberg.
  • Carle, Eric (2016): Die kleine Raupe Nimmersatt [The Very Hungry Caterpillar, 1969]. Übers. v. Christen, Viktor. München: dtv.
  • Jullien, Jean (2018): Das ist kein Buch [This is not a book, 2016]. München: Kunstmann.
  • Moost, Nele und Rudolph, Annet: Der kleine Rabe Socke. Stuttgart: Thienemann-Esslinger. Vgl. für den Medienverbund: https://www.thienemann-esslinger.de/buchhelden/der-kleine-rabe-socke/
  • Munari, Bruno (2003): Toc toc [1945]. Mantova: Corraini. Online unter: https://corraini.com/en/toc-toc-en.html
  • Preußler, Otfried (illustriert von Winnie Gebhardt-Gayler) (1957): Die kleine Hexe. Stuttgart: Thienmann.
  • Reed, Tom (2022): Lea und Finn langweilen sich. Übersetzt von Fischer Schulthess, Andrea. Zürich: Dörlemann.
  • Schärer, Kathrin (Text und Illustration) (2009): Johanna im Zug. Zürich: Atlantis.
  • Tidholm, Anna-Clara (Text und Bild) (1999): Klopf an! [Knacka på!, 1992]. Übers. v. Stohner, Anu. München: Hanser.
  • Torseter, Øyvind (2014): Das Loch [Hullet, 2012]. Übers. v. Dörries, Maike. Hildesheim: Gerstenberg.
  • ZO-O (2021): Die Ecke [나의 구석, 2020]. Übers. aus dem Englischen v. Michael Stehle. Stuttgart: Urachhaus

Sekundärliteratur

  • Carrión, Ulises (1980): The New Art of Making Books[vom Autor gekürzte und kommentierte englische Version von El arte nuevo de hacer libros, 1975]. In: Ders.: Second Thoughts. Amsterdam: Void Distributers, 6–22.
  • Geisler, Helena (2019, unveröffentlicht): Von der Notwendigkeit des Buches. Mediale Selbstreflexivität in der fantastischen Kinderliteratur als Anlass zur Besprechung von Buchgestaltung – ein Kommentar zu Carrións The New Art of Making Books. Essay aus kumulativer Hausarbeit: Welche fantastischen Kinder- und Jugendbücher sollte man als Abiturient*in in Deutschland gelesen haben?
  • Kümmerling-Meibauer, Bettina (2012): Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
  • Volz, Steffen/ Schröder, Klarissa (2016): Page breaks als Leerstellen bei der Bilderbuchrezeption. In: Scherer, Gabriela/ Volz, Steffen (Hrsg.): Im Bildungsfokus. Bilderbuchrezeptionsforschung. KOLA (Koblenz-Landauer Studien zu Geistes-, Kultur-, und Bildungswissenschaften). Bd. 15. Trier: WVT, 129–146

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