Dancing Queen
Regie: Aurora Gossé. Drehbuch: Silje Holtet. Norwegen, 2023. FSK: 6 Jahre. 93 Minuten
Die 12-jährige Mina ist in der Schule eine Außenseiterin: Sie ist leicht übergewichtig, trägt uncoole Kleidung und eine viel zu große Brille. Doch als der neue Schüler E.D. Win, einer der besten Hip-Hop-Tänzer Norwegens, einen Aufruf für ein Tanz-Casting startet, sieht sie ihre Chance gekommen. Durch das Tanzen gewinnt Mina an Selbstbewusstsein und verändert sich auch äußerlich, sie trägt nun Kontaktlinsen und moderne Kleidung, nimmt ein paar Kilo ab – durch diese Transformation entfernt sie sich aber immer mehr von ihren Eltern und ihrem besten Freund Markus. Aus der Musterschülerin ist ein selbstbestimmter und aufmüpfiger Teenager geworden. Doch dann bricht Mina beim Tanzen – ausgelöst durch eine Mangelernährung – zusammen.
Dancing Queen von Aurora Gossé greift bekannte Erzählmuster und Figurenkonstellationen auf, schafft es aber gleichzeitig, sich von den filmischen Vorlagen zu emanzipieren: Der Film ist weder eine Makeover-Success-Story wie Plötzlich Prinzessin, noch so desillusionierend wie Welcome to the Dollhouse. Vielmehr changiert der Film perfekt zwischen Drama und Komödie und hat ein Gespür für Situationen und vor allem: Genügend Empathie für seine Hauptfigur. Die Geschichte steht und fällt mit der Zeichnung von Mina, die durch ihre aufgeweckt-schrullige und gleichzeitig verletzliche Art als Identifikationsfigur etabliert wird. Die Kamera ist dabei immer bei ihr, oftmals in Form von Groß- und Nahaufnahmen oder Point-of-View-Shots. Der Film ist eine Mischung aus Tanzfilm, Drama und Komödie, vor allem wird aber in Form einer Coming-of-Age-Story Minas Reifungsgeschichte erzählt. Zu Beginn dominieren noch kindliche Figurenmerkmale, durch ihr Makeover befreit sie sich von ihrer kindlichen Unschuld, was mit Fragen der Identitätsfindung und jugendlichen Krisenthemen – wie Bodyshaming und Essstörung – einhergeht. Am Ende ist sie eine deutlich reifere Figur.
Dancing Queen ist ein Film über die Unsicherheit im Übergang zwischen Kindheit und Jugend, wie das in den letzten Jahren auch Filme wie Kokon oder Close erzählt haben. Im Unterschied dazu dominiert in Gossés Film bei allen Konflikten und Herausforderungen eine Leichtigkeit, die die kindliche Zielgruppe abholt. (Frank Münschke)
The Residence
Idee: Paul William Davies. Regie: Liza Johnson und Jaffar Mahmood. USA, 2025. 8 Folgen in 1 Staffel, je 47 bis 87 Minuten. Netflix
Cluedo ist ein Klassiker unter den Brettspielen. Seit es 1948 auf dem Markt erschienen ist, rätseln Hobby‑Detektiv*innen, wer den Hausherren Dr. Schwarz in welchem Raum und mit welcher Tatwaffe ermordet hat. Die Strategien sind individuell: Manche markieren im Ausschlussverfahren mit Zahlen und Buchstaben, wer den Mitspieler*innen welche Karten zeigt, andere fragen gezielt nach Karten, über die sie selbst verfügen, und wieder andere achten genau darauf, möglichst wenig unterschiedliche Karten weiterzugeben. Durch geschickte Fragestellungen kombiniert man sich so nach und nach zum Ziel.
Keine Fragen zu stellen ist in Cluedo allerdings kein allzu erfolgsversprechendes Vorgehen – ganz anders als in der Miniserie The Residence (USA, 2025, FSK 12), in der die berühmte Meisterdetektivin Cordelia Cupp (großartig: die aus Orange Is The New Black bekannte Schauspielerin Uzo Aduba) einen vermeintlichen Selbstmord des Chefbutlers im Weißen Haus während eines Staatsbanketts aufklären muss. Tatverdächtige mit Motiv gibt es unter den 157 Gästen und Angestellten so einige: die Assistentin des Opfers, die gerne die Nachfolge des „Chief Usher“ antreten würde, der nichtsnutzige Bruder des Präsidenten, der um sein Schmarotzer‑Dasein im zweiten Stock bangt, das Zimmermädchen, das bei ihrer Anstellung falsche Angaben gemacht hat, der verliebte Installateur, der deren Kündigung verhindern möchte und etliche mehr.
In weiser Voraussicht beschließt die Ermittlerin kurzerhand, dass so lange niemand das Weiße Haus samt dessen 132 Räumen verlassen darf, bis der Mörder gefunden ist – denn an Suizid glaubt Cordelia Cupp keine Sekunde. Nach und nach werden die Protagonist*innen zum Verhör gerufen und stoßen dort auf eine scharfsinnig fragende, aber eben auch abwartend schweigende Kommissarin, wodurch sich die verunsicherten Befragten immer wieder in Widersprüche verstricken oder deutlich mehr als geplant preisgeben. So erhalten die Zuschauer*innen mit der Zeit immer mehr Hinweise zu Tatort, Tatwaffe und Täter*in.
Die Dramaturgie gleicht dem Aufbau einer Novelle: Als Rahmenhandlung dient eine Senatsanhörung, zu der die Ermittler*innen und Zeug*innen des Mordfalls geladen und zum Tathergang befragt werden. Die Binnenerzählung beschränkt sich auf den Abend und die Nacht des Mordes und die nachfolgenden Ermittlungen der Polizistin, die immer wieder durch Rückblenden durchbrochen werden. Der Mord im Weißen Haus als unerhörte Begebenheit ist der Falke der Serie – einen Vogel, den Cordelia Cupp als passionierte „Birder“ neben vielen anderen zu Beginn der zweiten Folge symbolträchtig mit dem Fernglas beobachtet.
Die jeweiligen Episodentitel und auch manche Figurennamen verraten, in welcher Tradition sich die Serie sieht: Bei Anruf Mord, Knives Out, Sheila, Das Geheimnis des gelben Zimmers, Der Daumen des Ingenieurs etc. auf der einen Seite und Cordelia Cupp als weiblicher Benoit Blanc (Knives Out), Harry Hollinger als Amalgam aus Harry Lime und Holly Martins aus Der dritte Mann bzw. als Anspielung auf Immer Ärger mit Harry, der mit dem Mission: Impossible-Erfinder namensgleiche Haustechniker Bruce Geller usw. stellen The Residence in eine Linie mit großen Klassikern des Whodunit‑Genres. Angesichts dessen scheint es fast schon überflüssig, die mehrmals zitierte Agatha Christie zu erwähnen.
Die Ideen für The Residence (produziert u.a. von Shonda Rhimes) speisen sich mitunter aus den Anekdoten der Journalistin Kate Andersen Brower, die für ihr Sachbuch ‚The Residence: Inside the Private World of the White House‘ die Angestellten aus zehn US‑Regierungen mehrere hundert Stunden lang interviewte. Die Serie nimmt das Weiße Haus allerdings nicht allzu ernst: Es wird als Puppenhaus inszeniert, sein Personal – mehr Typen als Charaktere – schillernd überzeichnet, der Politbetrieb in der Schaltzentrale Washingtons als miniaturhafte Machtspielchen persifliert. Eine Kamerafahrt entlarvt die herrschaftlichen Räume in einer Szene aus der Vogelperspektive als Kulisse und gleichzeitig als Spielbrett – Cluedo lässt grüßen; so „entpuppt“ sich die Serie buchstäblich neben der Murder-Mystery‑Comedy als ironische Politgroteske.
Die Netflix‑Produktion erweist sich somit als höchst unterhaltsame Serie, der man die eine oder andere Langatmigkeit gerne verzeiht. (Christian Albrecht)
Kästners Detektive auf den Straßen von Berlin
Stadt, Land, Kunst. 14.05.2025. Frankreich 2025
Auch KJL-Forscher*innen sind manchmal auf der Leinwand bzw. auf dem Bildschirm zu sehen: Die arte-Reihe „Stadt, Land, Kunst“ war neulich auf den Spuren von „Kästners Detektive[n] auf den Straßen von Berlin“ (Sendung vom 14.05.2025). Mit von der Partie: Prof. Dr. Julia Benner und Anika Guse von der Humboldt-Universität sowie Dr. Sebastian Schmideler, der die Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin leitet. Die KJL-Forscher*innen nehmen ihr Publikum mit zu einigen Originalschauplätzen des Kinderromans, lesen aus den entsprechenden Textpassagen und ordnen Kästner und seinen Emil in seine Entstehungszeit ein. Die Sichtung des 15-minütigen Specials lohnt sich.
https://www.arte.tv/de/videos/126848-000-A/kaestners-detektive-auf-den-strassen-von-berlin/
(Verfügbar bis 13.05.2027) (Philipp Schmerheim)
Jeder schreibt für sich allein. Schriftsteller im Nationalsozialismus
Regie: Dominik Graf und Felix Von Boehm. Deutschland 2023. 168 Minuten. RBB
Dazu passend ist in der arte-Mediathek bis Februar 2026 die großartige Dokumentation Jeder schreibt für sich allein. Schriftsteller im Nationalsozialismus zu sehen, in dem Dominik Graf und Felix von Boehm die gleichnamige Buchpublikation von Anatole Regnier aufgreifen und der Frage nachgreifen, wie überhaupt und unter welchen Umständen deutsche Schriftsteller wie Erich Kästner, Hans Fallada oder Gottfried Benn im Dritten Reich bleiben und unter der Herrschaft der Nationalsozialisten ihrem Beruf nachgehen konnten. Der 168 Minuten lange Dokumentarfilm diskutiert „das komplexe Verhältnis zwischen Kunst, Leben und politischem Handeln, Anpassung und Parteinahme, Autonomie und Komplizenschaft bis in die Gegenwart hinein.“ (Filmankündigung).
https://www.arte.tv/de/videos/100268-000-A/jeder-schreibt-fuer-sich-allein/
(Verfügbar bis 16.02.2026) (Philipp Schmerheim)
Frühere Filmtipps
Tipps aus der Kinder- und Jugendfilmredaktion (Juni 2025)