Explikat

Auch vor dem Aufkommen der neuen Begriffe gab es an Kinder und Erwachsene gleichzeitig gerichtete oder von mehreren Lesergruppen rezipierte Texte. Die auffälligste Neuerung für das Crossover der Jahrtausendwende im Gegensatz zu diesen früheren kinderliterarischen Texten ist das veränderte Marketing: Das Label Crossover dient Verlagen und Buchhandel als Verkaufsargument und wird gezielt zur breiteren Vermarktung der Texte eingesetzt. Mit dem neuen Trend hängen auch Veränderungen in der Publikationsform zusammen. Häufig gibt es dual editions, mit denen ein Crossover-Text sowohl in einer Ausgabe für Kinder bzw. Jugendliche als auch in einer Ausgabe für Erwachsene veröffentlicht wird. Solche Doppelausgaben sind beispielsweise für Harry Potter (hier wird auch die deutsche Übersetzung in zwei Ausgaben angeboten), His Dark Materials und The Chronicles of Narnia auf dem Markt. Der eigentliche Text der Ausgaben ist dabei identisch; oft unterscheiden sie sich jedoch in der Gestaltung des Covers, teilweise auch in der Auswahl der Illustrationen (in Neil Gaimans The Graveyard Book etwa stammen die Illustration der Ausgabe für Kinder von Chris Riddell, die der Ausgabe für Erwachsene von Dave McKean). Zunehmend finden sich aber auch eher dezent gestaltete, mit Ornamenten oder plakativen Symbolen versehene Cover (so z. B. bei den englischsprachigen Ausgaben der Twilight-Reihe), die sich gleichzeitig an die potenziellen Käufer und Leser aller Altersgruppen richten sollen.

Als Crossover-Werke werden allerdings meist Texte angesehen, die sich weniger an Kinder (und Erwachsene), sondern vielmehr an Jugendliche (und Erwachsene) richten. Möglicherweise sind gesellschaftliche Veränderungen, die bisweilen negativ als Jugendwahn oder auch Infantilisierung bezeichnet werden, Voraussetzung für die neuen Crossover-Texte, die in einem Übergangsbereich von Jugend und Erwachsensein anzusiedeln sind. Sandra Beckett beschreibt dieses neue Publikum mit dem Begriff des Hybriden: "[ ] crossover texts do not necessarily address a dual audience of children and adults. Some may even seem to target a single audience of hybrid adult-child-readers" (Beckett 2009, S. 3).

Abgesehen von den gesellschaftlichen Bedingungen und den äußeren Publikationsmerkmalen, die die neue Crossover-Literatur ausmachen, ist es schwierig oder sogar unmöglich, allgemeingültige inhaltliche, strukturelle oder stilistische Merkmale von Crossover-Texten festzustellen. Teils werden besonders komplexe Texte als typisch für das neue Crossover angesehen; genannt werden dabei Formen der Ironie und der Intertextualität als Signale des Crossovers. Teils wird aber auch die Meinung vertreten, gerade eine gewisse Einfachheit und die Konzentration auf traditionelles Geschichtenerzählen mache die Texte attraktiv für Erwachsene, die sich von den postmodernen Erzählformen abwendeten (vgl. dazu Falconer 2009b, S. 368).

Diskutiert wird auch die Gattungszugehörigkeit als ein Merkmal der Crossover-Literatur: Texte aus dem Bereich der Fantasy-Literatur mit ihrer Darstellung universeller Themen und Konflikte werden besonders häufig als Crossover-Literatur wahrgenommen und entsprechend vermarktet. Dieses besondere Crossover-Potenzial mag darin bestehen, dass in der Fantasy kaum noch typisch kindlich-jugendliche Themen verhandelt werden, sondern vielmehr "allgemeine, alterssübergreifende Themen" (Ewers 2012b, S. 37). Andererseits wird (besonders von Rachel Falconer 2009 und Sandra Beckett 2009) auch kritisch darauf hingewiesen, dass Crossover sich nicht ausschließlich auf die Gattung der Fantasy beschränkt. 

Die neueren Begriffe "Crossover" und "All-Age" werden seit Ende der 1990er Jahre gebraucht; zuvor wurden vergleichbare Texte als "ambivalent" (Zohar Shavit), "doppelsinnig" (Hans-Heino Ewers) oder "mehrfachadressiert" (Hans-Heino Ewers und Emer O’Sullivan) bezeichnet. Obwohl die Crossover-Literatur in dieser Tradition der Literatur für Kinder und Erwachsene steht, zeigen sich jedoch zwischen Doppelsinnigkeit und Mehrfachadressierung einige Unterschiede. Man kann zwar davon ausgehen, dass in Crossover-Texten zwar durchaus Momente der Ironie und andere Signale an die erfahrenen Leser vorhanden sind, dass aber auch den unerfahrenen Lesern (vgl. Kölzer 2004) die eigentliche Botschaft nicht vorenthalten bleibt. Das bedeutet auch, dass – anders als in doppelsinnigen Texten – die Lesart für alle Lesergruppen mehr oder weniger identisch, aber graduell unterschiedlich wahrnehmbar zu sein scheint.

Crossover-Titel sind damit nicht doppelsinnig in einem binären Sinn, sondern vielmehr einsinnig, eventuell mit graduellen Abstufungen. Crossover-Literatur ist damit aus den früheren Textkategorien am ehesten der "mehrfachadressierten Literatur mit gleichlautender Botschaft" (Ewers 2012a, S. 60) gleichzusetzen, die zwar keine völlig unterschiedlichen Botschaften bietet, aber dennoch für mehrere Lesergruppen attraktiv ist: Ewers (2012a, S. 61) definiert: "Eine mehrfach adressierte Kinder- und Jugendliteratur mit gleichlautender Botschaft kann von den verschiedenen Adressatengruppen mehr oder weniger vollständig rezipiert werden. Abhängig ist dies vom Erfahrungs- und Wissensstand der jeweiligen Leser(gruppen)."

Forschungsgeschichte

Im Vorwort zu einer Sonderausgabe der Zeitschrift Children's Literature (1997) verwendeten die Herausgeber Ulrich Knoepflmacher und Mitzi Myers offenbar erstmals den Terminus "Crosswriting" für Texte, die sich an mehrere Lesergruppen wenden. Besonders nach dem Erscheinen des ersten Harry- Potter-Bandes (1997) und dem überwältigenden Erfolg der Folgebände bei Kindern und Erwachsenen ist seither immer häufiger von "Crosswriting"‚ "Crossover"- und "All-Age"-Literatur die Rede.

Rachel Falconer definiert 2004 in der zweiten Auflage der International Companion Encyclopedia of Children’s Literature (in der ersten Auflage von 1996 fehlte ein entsprechender Eintrag noch) "Crossover Literature“ – mit Hinweis auf die wenig eindeutige Verwendung der Bezeichnung – folgendermaßen: "In children's literature criticism [ ] crossover is generally meant to refer to a crossing between age boundaries [ ]. Even in this field, 'crossover' can refer to different aspects of the narrative communication act: the relation between authors and texts, the internal attributes of texts, or the relation between texts and readers, for example" (Falconer 2004, S. 557f.).

Sandra Beckett beschreibt das Phänomen in Transcending Boundaries. Writing for a Dual Audience of Children and Adults (1999) und in The Oxford Encyclopedia of Children’s Literature (2006) mit dem Eintrag "Crossover Books", indem sie auf verschiedene Ausprägungen des Crosswritings hinweist: Dazu zählen in einer weiten Definition einerseits Autoren, die Kinder bzw. Erwachsene in verschiedenen Texten ansprechen, sowie andererseits solche, die dies im selben Text tun. Auch Kümmerling-Meibauer bietet eine solche weite Definition des Crosswritings: "Bezogen auf die Kinderliteratur kann der Terminus [Crosswriting] drei Aspekte bezeichnen: erstens die Tatsache, dass viele Kinderbuchautoren auch Werke für Erwachsene schreiben; zweitens das Phänomen, dass ein zunächst als Erwachsenenbuch konzipiertes Werk von demselben Autor als Kinderbuch umgeschrieben wird oder umgekehrt; drittens ein rezipientenübergreifendes Schreiben, d. h. ein kinderliterarischer Text wendet sich in diesem Fall sowohl an kindliche als auch erwachsene Leser" (Kümmerling-Meibauer 2003, S. 248). Allerdings hat sich mittlerweile die Bedeutung der Begriffe Crossover und All-Age, auch durch die Verwendung durch Literaturkritik und Verlage, auf die letzte Bedeutung verengt, also die Wendung an verschiedene Altersgruppen in einem Text.

Von Sandra Beckett und Rachel Falconer stammen die beiden bisher erschienenen grundlegenden Monographien zum Thema Crossover, nämlich Becketts Crossover Fiction. Global and Historical Perspectives (2009) – eine international und historisch angelegte Studie, die vor allem mit Überblicken über Primärtexte zu verschiedenen Untergruppen des Crossover und Crosswritings arbeitet – und Falconers Veröffentlichung The Crossover Novel. Contemporary Children’s Fiction and its Adult Readership (ebenfalls 2009), in der Crossover vor allem als gesellschaftlich begründetes Phänomen gesehen und anhand von Analysen britischer Beispieltexte dargestellt wird.

Weitere Publikationen zum verschiedenen Ausprägungen der Literatur für Kinder und Erwachsene bestehen häufig in Analysen einzelner Texte oder des Gesamtwerks eines Autors als doppelsinnige, mehrfachadressierte oder Crossover-Literatur. 

Die Crossover-Literatur im Allgemeinen und die Zunahme von als All-Age-Literatur vermarkteten Publikationen im Besonderen werden unterschiedlich bewertet. Einerseits verspricht eine solche Literatur ein breiteres Lesepublikum für die Kinderliteratur und daher auch einen Statusgewinn für die Kinderliteraturwissenschaft. Sie wird dementsprechend begrüßt und intensiv in Publikationen behandelt. Andererseits wird die Zunahme von Crossover-Titeln und die ihnen zuteil werdende große Aufmerksamkeit auch negativ bewertet und von einigen als Zeichen der Infantilisierung der Gesellschaft, von anderen als Bedrohung der Kinderliteratur empfunden. So beschreibt etwa Tilman Spreckelsen im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Phänomen als "Feindliche Übernahme" der Kinderliteratur durch Erwachsene (so der Titel des Artikels, Spreckelsen 2009).

 Bibliografie

  • Beckett, Sandra L.: Transcending Boundaries. Writing for a Dual Audience of Children and Adults. New York, London: Garland, 1999.
  • Beckett, Sandra L.: Crossover Books. In: The Oxford Encyclopedia of Children’s Literature. Band 1. Hrsg. von Jack Zipes. New York, Oxford: OUP, 2006. S. 369–370.
  • Beckett, Sandra L.: Crossover Fiction. Global and Historical Perspectives. London, New York: Routledge, 2009.
  • Blume, Svenja und Angelika Nix: Abgrenzung oder Entgrenzung. Das kulturelle Alter als narrative Kategorie. In: Über Grenzen. Grenzgänge der Skandinavistik. Festschrift zum 65. Geburtstag von Heinrich Anz. Hrsg. von Wolfgang Behnschnitt und Elisabeth Herrmann. Würzburg: Ergon, 2007. S. 101–126.
  • Blümer, Agnes: Das Konzept Crossover – eine Differenzierung gegenüber Mehrfachadressiertheit und Doppelsinnigkeit. In: Jahrbuch Kinder- und Jugendliteraturforschung 2008/2009. Frankfurt/M.: Lang 2009. S. 105–114.
  • Blümer, Agnes: Crossover/All-Age-Literatur. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Autoren, Illustratoren, Verlage, Begriffe. Begründet von Alfred C. Baumgärtner und Heinrich Pleticha. Hrsg. von Kurt Franz, Günter Lange und Franz-Josef-Payrhuber. Meitingen: Corian, 1995ff. 41. Ergänzungslieferung: Februar 2011 (Teil 5: Literarische Begriffe/Werke/Medien). Nicht paginiert.
  • Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Paderborn: Wilhelm Fink, 2012 (Ewers 2912a).
  • Ewers, Hans-Heino: Was ist von Fantasy zu halten? Anmerkungen zu einer umstrittenen Gattung. In: SchWellengänge. Zur Poetik, Topik und Optik des Fantastischen in Kinder- und Jugendliteratur und –medien. Hrsg. von Ute Dettmar, Mareile Oetken, Uwe Schwagmeier. Frankfurt/M..: Peter Lang, 2012. S. 19-40 (Ewers 2012b).
  • Falconer, Rachel: The Crossover Novel. Contemporary Children’s Fiction and its Adult Readership. London, New York: Routledge, 2009 (Falconer 2009a).
  • Falconer, Rachel: Cross-reading and Crossover Books. In: Children’s Literature. Approaches and Territories. Hrsg. von Janet Maybin und Nicola J. Watson. London: Palgrave Macmillan, 2009. S. 366–379 (Falconer 2009b).
  • Knoepflmacher, Ulrich. C. und Mitz Myers: From the Editors: ‚Cross-Writing‘ and the Reconceptualizing of Children's Literary Studies. In: Children’s Literature 25 (1997). S. vii–xvii; Kölzer, Christan: Warum Erwachsene ‚Jugendbücher‘ lesen dürfen – und andersherum! Dual address in Philip Pullmans Fantasy-Trilogie His Dark Materials. In: Peter Pans Kinder : Doppelte Adressiertheit in phantastischen Texten. Hrsg. von Maren Bonacker. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2004. S. 16–26.
  • Kümmerling-Meibauer, Bettina: Kinderliteratur, Kanonbildung und literarische Wertung. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2003.
  • O’Sullivan, Emer: Kinderliterarische Komparatistik. Heidelberg: Winter, 2000.
  • Shavit, Zohar: Poetics of Childrens Literature. Athens, London: University of Georgia Press, 1986.
  • Spreckelsen, Tilman: Feindliche Übernahme. Warum die Kinder- und Jugendliteratur sich endlich von ihrer erwachsenen Leserschaft emanzipieren muss: Plädoyer für einen Befreiungsschlag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (07.08.2009). S. 29.