Explikat

Konzeptionell und begrifflich ist der Stoff eng verbunden mit dem Motiv und dem Thema; häufig wird er – aus Begriffsfindungsschwierigkeiten, welche die drei Begriffe ebenfalls einen – in deutlicher Abgrenzung zu diesen bestimmt. So definiert Elisabeth Frenzel den Stoff folgendermaßen: 

Unter Stoff ist nicht das Stoffliche schlechthin als Gegenpol zu dem formalen Strukturelement der Dichtung zu verstehen, also nicht alles, was die Natur der Dichtung als Rohstoff liefert, sondern eine durch Handlungskomponente verknüpfte, schon außerhalb der Dichtung vorgeprägte Fabel, ein 'Plot', der als Erlebnis, Vision, Bericht, Ereignis, Überlieferung durch Mythos und Religion oder als historische Begebenheit an den Dichter herangetragen wird und ihm einen Anreiz zu künstlerischer Gestaltung bietet. Seine festeren Umrisse unterscheiden den Stoff sowohl von dem abstrakteren, gewissermaßen entstofftlichten Problem oder Thema wie Treue, Liebe, Freundschaft, Tod als auch von der kleineren stofflichen Einheit des Motivs […] das zwar das Anschaulich-Bildhafte und Situationsmäßige mit dem Stoff gemeinsam hat, aber nur einen Akkord anschlägt, wo der Stoff eine ganze Melodie bietet. (Frenzel 2005, S. VII)

Der Stoff unterscheidet sich demzufolge von Motiv und Thema gleichermaßen durch seine größere Konkretisierung: So ist das Thema abstrakt und das Motiv durch anonyme Personen und Situationen, die jeweils unterschiedlich gefüllt und inszeniert sein können, geprägt (vgl. Frenzel 1980, S. VI). Der Stoff hingegen ist an konkrete und namentlich benannte Figuren gebunden, die somit auch einem mehr oder minder konkreten und nur durch wenige Abweichungen gekennzeichneten Plot bzw. Handlungsverlauf tragen (vgl. ebd.). Der Rotkäppchen-Stoff lässt sich bspw. durch die verschiedenen Märchenversionen von Charles Perraults Le Petit Chaperon rouge über die Version von Ludwig Tieck und den Gebrüdern Grimm bis zu Ludwig Bechstein nachweisen. Auch wenn zahlreiche der modernen Adaptionen wie bspw. Roald Dahls Little Red Riding Hood sich produktiv mit dem Stoff auseinandersetzen und ihn umwandeln, bleiben doch die Figuren von Wolf und Rotkäppchen und zumeist auch das eher unglückliche Ende des Wolfes bestehen.

Deutlich wird an diesen Verbindungslinien zudem, dass der Stoff – ähnlich wie das Motiv – sowohl für die intratexuelle, aber auch die intertextuelle und intermediale Analyse wichtige Ansatzpunkte liefern und als transmediales Phänomen verstanden werden kann (vgl. Poppe 2013, S. 38).


Bibliografie 

  • Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon deutungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1980.
  • Frenzel, Elisabeth: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon deutungsgeschichtlicher Längsschnitte. 10. erw. und überarb. Auflag. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 2005.
  • Poppe, Sandra: Emotionen in Literatur und Film. Transmediale Visualität als Mittel der Emotionsdarstellung. In: Medien erzählen Gesellschaft. Transmediales Erzählen in der Medienkonvergenz. Hrsg. von Karl. N. Renner, Dagmar von Hoff und Mathias Krings. Berlin/Boston: de Gruyter, 2013. S. 37-64.

Erstveröffentlichung: 12.10.2016