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Abb. 1: Auch der dritte Field Trip ist schon in Arbeit, nach dem Raumschiff und dem U-Boot ist die Schulklasse hier mit einem Hubschrauber auf Exkursion! (Quelle: Blogeintrag Hares vom 22.03.2021)

Helena Geisler: Lieber John Hare, gerade ist Ihr neuestes Bilderbuch in Deutschland erschienen: Tief im Ozean führt uns in eine bunte und geheimnisvolle Unterwasserwelt. In Ihrem Blog haben Sie geschrieben, dass Sie gerade die Illustrationen für den dritten Field Trip fertiggestellt haben, und auch ein Bilderbuch mit Text ist offenbar in Arbeit!

Sie haben früher als Grafikdesigner gearbeitet, auf Ihrer Website finden sich einige Comics, und Sie teilen dort auch Illustrationen, die im Rahmen von "Malpartys" mit Freunden entstanden sind. Wie kamen Sie denn dazu, textlose Bilderbücher für Kinder zu illustrieren? Oder sind die Geschichten nur zufällig (auch) für Kinder interessant?

John Hare: Als Kind habe ich ständig Comics gezeichnet und Geschichten geschrieben. Ich wollte unbedingt so etwas machen, wenn ich erwachsen bin. Aber als es dann Zeit wurde, aufs College zu gehen, dachte ich mir, dass ich besser etwas Handfestes, aber dennoch Kreatives wählen sollte – also ging ich in den Bereich Grafikdesign. Ich arbeitete mich bis zum art director einer Sportbekleidungsfirma hoch und gründete dann mein eigenes Grafikdesign-Unternehmen, aber in meiner Freizeit zeichnete ich weiterhin Cartoons und spielte mit Story-Ideen. Ich konnte es einfach nicht lassen! Ich beschloss, einen Karrierewechsel zu versuchen und daran zu arbeiten, Kinderbuchillustrator und -autor zu werden.

Was die Frage angeht, ob meine Bücher für Kinder gedacht sind oder ob sie nur zufällig das Interesse von Kindern wecken: Ich erinnere mich an ein Interview mit Maurice Sendak, in dem er sagte – ich paraphrasiere jetzt – dass er keine Geschichten für Kinder gemacht hat, sondern Geschichten für sich selbst, die Kinder zufällig mögen. Das trifft es wirklich auf den Punkt.

[Das entsprechende Sendak-Interview findet sich übrigens im TIME Magazine; Anm. d. Red.]

Wie unterscheiden sich Ihre Recherchemethoden, Ihre Malweise und die Art der Kommunikation bei der Arbeit als Autor-Illustrator von Ihrer früheren Arbeit als Grafikdesigner?

Meine Kommunikationsmethoden sind definitiv von meiner Grafikdesign-Ausbildung beeinflusst, bei der man sich sehr bewusst sein muss, wie der Blick durch eine Komposition geführt wird und welche Elemente hervorgehoben werden. Ich baue auch auf meine Begeisterung für das Comiczeichnen, die ich schon als Kind hatte. Im Comic hat man nur wenige Panels, um eine Idee zu vermitteln, also muss man sehr effizient in der Gestaltung sein.

Was die Recherche angeht, ist der große Unterschied, dass mich das Thema generell begeistert, wenn ich eine Geschichte schreibe. Wenn ich mich für ein Thema wirklich interessiere, recherchiere ich es schon zum Spaß sehr gründlich. Wenn ich mich nicht so sehr dafür interessiere, wie es bei kommerziellen Arbeiten oft der Fall war, dann scheint sich mein Leseverständnis zu verflüchtigen und es wird zu einer echt anstrengenden Pflicht. Ich nehme an, das trifft auf die meisten Leute zu.

Das Malen ist eine andere Geschichte. Ich habe als Kind oder auch als Grafikdesigner nie wirklich viel gemalt. Ich habe zufällig mit der Malerei angefangen, als mein Leben so richtig aus den Fugen geriet. Ich bin so dankbar dafür, denn ich weiß nicht, wie ich das ohne die kathartische Befreiung, die mir Malen gebracht hat, durchgestanden hätte. Erst später habe ich erkannt, dass die Malerei das fehlende Puzzleteil war, was mir das Selbstvertrauen gegeben hat, es ernsthaft mit dem Illustrieren von Geschichten zu versuchen.

Wer oder was hilft Ihnen am meisten dabei, kreativ-produktiv zu sein?

Winter und Regentage zum Beispiel. Wenn es draußen schön ist, finde ich es unglaublich schwierig, drinnen zu sitzen, um zu malen oder schreiben. Meine Komfortzone zu verlassen scheint auch zu guten Ergebnissen zu führen… außer, wenn das bedeutet, an einem wunderschönen Tag drinnen bleiben und stillsitzen zu müssen.

Die politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus haben unsere Kommunikation in die virtuelle Welt verschoben. Öffentliche Lesungen für Kindergruppen waren zuletzt beispielsweise nicht mehr möglich. Wie bekommen Sie es hin, trotzdem Feedback zu bekommen, sind Sie in Kontakt mit denen, die Ihre Bücher gemeinsam mit ihren Kinder(gruppen) lesen? Oder ist die Rückmeldung durch Familie und Freunde, oder durch Ihren Verlag, wichtiger für Ihren Arbeitsprozess?

Wenn eine Geschichte erstmal veröffentlicht ist, möchte ich normalerweise gar nicht so viel Feedback bekommen. Vielleicht liegt das daran, dass ich da sensibel bin und Angst davor habe, dass es meine zukünftige Arbeit beeinflussen könnte. Trotzdem ist ein gewisses Maß an Rückmeldung unvermeidbar und natürlich auch nützlich. Sogar kritische Kommentare – denn wenn die mich wirklich stören, heißt es, dass jemand auf etwas hinweist, von dem ich schon wusste, dass es ein Problem sein könnte. Und wenn sie mich nicht stören, dann würde ich wohl sowieso nichts verändern und werde nur daran erinnert, dass nicht für alle ist, was ich mache. Manchmal gibt es Leute, die mir per E-Mail sagen, wie eine Geschichte sie, ihre Kinder oder ihre Klasse beeinflusst hat – und das finde ich natürlich super!

Jetzt würde es mich interessieren, was die Unterschiede bei Ihrer Arbeit an Ausflug zum Mond und Tief im Ozean waren, wo Sie wahrscheinlich schon von Anfang an die Unterstützung Ihres Verlags hatten: Wie lang war jeweils der Prozess von der ersten Story-Idee zur Veröffentlichung? Was war einfacher, was war schwieriger bei der Arbeit am zweiten Buch – die Recherche, die Arbeit am Inhalt oder den Charakteren, die Illustrationen oder die Kommunikation mit dem Verlagsteam?

Von der ersten Idee bis zur Veröffentlichung hat es bei Moon [Ausflug zum Mond, HG] länger gedauert, weil wir einen Verlag finden mussten, der bereit war, einem unbekannten Autor-Illustrator eine Chance zu geben. Aber Moon war auch sehr viel einfacher. Die Idee floss quasi aus mir heraus, und ich hatte Vertrauen in sie. Deep [Tief im Ozean, HG] hat sich da schon schwieriger angefühlt. Nicht nur, weil es mein zweites Buch war – was, wie ich herausgefunden habe, tatsächlich die berühmten Schwierigkeiten machen kann – sondern auch, weil es eine Art Fortsetzung zu Moon sein sollte. Das hat bedeutet, dass ich nicht einfach irgendeine Idee nutzen konnte, die mir im Kopf umhergeschwirrt ist. Denn es sollte sich anfühlen wie ein zweites Field Trip-Buch [mit “Field Trip”, also Klassenausflug oder Exkursion, beginnen beide Originaltitel, HG].

Ein anderer Grund, warum es so schwierig war, war, dass Deep auf dem Meeresboden spielt und ich wollte, dass es dort sehr dunkel ist. Ich war es aber nicht gewohnt, in dunklen Tönen zu malen, deshalb hat mich die Illustration mehr Zeit gekostet, als ich gedacht hatte. Der ganze Prozess war ein Marathon, aber ich wusste, ich muss dadurch und ich freue mich sehr, dass das Ergebnis ein Field Trip-Buch geworden ist.

Was inspiriert Sie am meisten, wenn Sie eine neue Welt entwerfen?

Mir mich selbst als Kind dort vorzustellen. Ich überlege, wie die Landschaft ist – die Gipfel und Täler. Was ist sicher? Was ist gefährlich? Was würde ich nur vorsichtig mit einem Stock anstupsen? Was würde ich umdrehen und untersuchen? Wo könnte etwas versteckt sein? Wo könnte ich mich verstecken, wenn dieses Etwas nicht nett ist? Und, ob Sie es glauben oder nicht, Naturwissenschaft inspiriert mich. Es sind vielleicht fantastische Welten, aber es gibt bestimmte Naturgesetze, die ich nicht brechen will. Das heißt aber nicht, dass das höchst Unwahrscheinliche nicht doch passieren kann!

Auf Ihrem Blog finden sich frühe Entwürfe von Tief im Ozean; manche davon waren sehr viel dramatischer als die Illustrationen, die in der Endversion veröffentlicht wurden. Warum haben Sie sich dafür entschieden, diese früheren Ideen nicht zu verwenden? Haben Sie geglaubt, die wären zu gruselig für das junge Publikum?

Ja! Der ursprüngliche Entwurf für Deep war SEHR anders. Ich war nicht so sehr damit beschäftigt, die Identität der Kinder zu verstecken, und die Kreaturen waren ein bisschen ursprünglicher und intensiver – so wie ich mir den Ozean eben vorstelle!

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Abb. 2 & Abb. 3: Die ursprüngliche Version des Fischsauriers (Abb. 2) im Vergleich mit der harmloseren Endversion (Abb. 3), hier sind auch die Wasserasseln eher Kuscheltiere als Ungeheuer (Quelle: John Hare und Portfolio John Hares)

Das Problem war, dass es sich zwar wie eine interessante und spannende Geschichte angefühlt hat, aber nicht wie die Art von Ausflugsgeschichte, die Moon eingeführt hat. In der Version, auf die Sie sich beziehen, greifen am Ende riesige Amphipoden (Shrimps-ähnliche Kreaturen) den Bus an, weil sie von den Scheinwerfern angezogen wurden!

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Abb. 4: Früher Entwurf der Exkursionsgruppe auf dem Meeresboden (in den Tauchrobotern sind die Gesichter nicht wie in der Endversion versteckt), im Hintergrund der von den Amphipoden angegriffene Schulbus (Quelle: John Hare)

Wie Sie sehen: Wenn ich schreibe, um mich selbst zu unterhalten, muss ich aufpassen, dass ich nicht vergesse, wer mein eigentliches Publikum ist! Es gab auch eine Version, in der die Begegnung mit drei riesigen Cephalopoden (Kopffüßern), einem Oktopus, einem Kalmar und einem Tintenfisch stattfand. Das war der knappe zweite Platz hinter der Version, die veröffentlicht wurde.

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Abb. 5: Die Kopffüßer entdecken das fotografierende Kind, in der Endversion sind es drei meerschweinchengroße Wasserasseln (Quelle: John Hare)

Wer waren die Lieblingscharaktere oder Lieblingsgeschichten Ihrer Kindheit?

Meine Lieblingsgeschichte war The Sneetches von Dr. Seuss. Es ist eine großartige Parabel, die mich mein ganzes Leben begleitet hat. Im selben Buch gab es eine andere Geschichte, von der ich wie besessen war, sie heißt What was I afraid of?. Darin geht es um ein Kind, das Angst vor einer Hose hat, die sich bewegt, obwohl niemand sie trägt. Ich habe es geliebt. Ich fand auch Frog and Toad are Friends toll – so einfach und großartig.

Die ereignisreichen Szenen und Übersichten in den Büchern von Richard Scarry konnte ich stundenlag anschauen. Und ich fand auch The Berenstain Bears super.

Meine wirklichen Lieblingscharaktere waren Calvin and Hobbes. Ich weiß, dass sie keine Kinderbuchfiguren sind, aber ich habe Bill Wattersons Comics immer wieder gelesen, als wären sie eine Art heilige Schrift. Und wenn wir schon über Comics reden, muss ich auch The Far Side erwähnen.

Wessen Arbeiten sind heutzutage am wichtigsten für Sie?

Ich liebe wirklich Shaun Tans Arbeiten. Wenn ich ein Buch wie Die Regeln des Sommers (Rules of Summer) in die Hand nehme, bin ich überwältigt von seinen Illustrationen und habe keine Ahnung, was die nächste Seite offenbaren wird. Seine Arbeiten haben eine Atmosphäre, die mich jedes Mal mitreißt, wenn ich sie betrachte. Sehr inspirierend!

Herzlichen Dank für das Interview! Ich wünsche Ihnen das Allerbeste für die Zukunft, und freue mich auf viele weitere (Bilder-)Bücher von Ihnen!