Inhalt

In Heinrich will brüten! wird die Geschichte eines jungen Hahns erzählt, der statt zu krähen lieber ein Ei ausbrüten möchte. Zunächst stößt er mit diesem Wunsch auf Unverständnis seitens seiner Eltern und aller anderen Figuren. Mit der Zeit denkt sein Umfeld um und seine Eltern geben ihm ein Ei, welches er selbst ausbrüten darf.

Kritik

Der zentrale Konflikt der Ausgangssituation besteht darin, dass der junge Hahn Heinrich sich nicht den Erwartungen seiner Eltern anpasst und den Wunsch äußert, als männliches Hähnchen auch eigentlich hennentypische Handlungen vollziehen zu können, etwa Eier auszubrüten und Fürsorge für Küken zu übernehmen. So heißt es in extradiegetischer Erzählrede: "Heinrich will lieber jetzt Küken hüten, als später den Hühnerhof bewachen." Demzufolge widerspricht es seinen inneren Bedürfnissen, sich schon als kleiner Hahn zum potenziellen Beschützer heranbilden zu lassen. Vielmehr strebt er danach, Tätigkeiten zu verrichten, die in der Logik der Erzählung weiblich korreliert sind. Einen Kulminationspunkt erreicht die Handlung in einer Szene, in der Heinrichs Eltern ihre Bedenken äußern:

"Gütiger Gartenzwerg!", sagt Papa. "Küken hüten – als Hähnchen? Wo gibt’s denn so etwas?" "Ei, ei, ei", sagt Mama, "ausbrüten willst du sie wohl auch noch?"

Diese ironische Antwort auf Heinrichs Bitte ist symptomatisch für die Einstellung der Elterngeneration. Für sie scheint es schlicht und ergreifend keine Option zu sein, dass ein männlicher Hahn sich nicht den typisch männlichen Aufgaben widmet. Hieraus spricht eine gewisse Form von Naturalisierung im Sinne Rendtorffs, (2014, 285) derzufolge die Geschlechterrollen den Eltern naturgegeben und unabänderlich scheinen. Die Bildebene reichert diese Haltung an: Die Eltern bilden eine Front gegenüber dem kleiner gezeichneten und damit inferior wirkenden Heinrich. Aus ihren Blicken lässt sich eine Mischung aus Mitleid und Skepsis herauslesen. Heinrich hingegen ist in der Mitte des Bildes am unteren Rand positioniert und schaut mit bittender Flügelhaltung nach oben zu seinen Eltern.

Abb. 1: Bild aus "Heinrich will brüten": Die Eltern blicken skeptisch auf ihren Hähnerich.Abb. 1: Heinrich will die elterliche Front durchbrechen, ©️ 2020 Nikolai Renger, Magellan Verlag, aus: Anette Thumser, Nikolai Renger: Heinrich will brüten!

Diese intergenerationale Konfliktsituation, und darin liegt die große Stärke des Bilderbuches, stellt sich allerdings nur als eine anfängliche Störung im Sinne Gansels (vgl. Gansel 2022, 174) dar. Sie besteht in diesem Falle in einem Verstoß gegen die bestehende Ordnung der Elterngeneration und setzt innerhalb der erzählten Welt einen Repair-Prozess (vgl. Gansel 2022, 176) in Gang, durch den die Ordnung neu ausgehandelt werden kann. Dieses Stör-Potenzial lässt sich auch auf die Rezeption übertragen. So bietet die Passage ein Irritationspotenzial für Rezipientinnen und Rezipienten, das ebenfalls ein Nachdenken über die Ordnung anbahnen kann.

Von vornherein bezieht die extradiegetische Erzählinstanz eindeutig Partei für die Figur Heinrich. So heißt es direkt im Anschluss an die Argumente der Eltern: "Ja. Warum denn nicht? Wer gibt Heinrich ein Ei zum Brüten?" Die Position der Eltern wird damit eindeutig unterminiert und somit dekonstruiert. Die lapidar eingeworfene Frage warum denn nicht? zeigt, dass die bislang geäußerten Gründe aus der Sicht der Erzählinstanz geradezu als beliebig erscheinen. Es wird sehr plastisch vorgeführt, dass vermeintliche Selbstverständlichkeiten und natürlich bedingte Unterschiede zwischen den Geschlechtern rein beliebige Konstrukte darstellen und somit keine Argumente gegen die persönliche Selbstentfaltung liefern. In der Anschlusskommunikation lässt sich dies im Sinne Bernhardts nutzen, um die Naturalisierung zu dekonstruieren (vgl. Bernhardt 2019, 146). Entsprechend wird die These deutlich, dass ein Individuum sich nicht durch die gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen einschränken lassen muss.

Die pikturale Ebene unterstützt das hervorragend: So ist Heinrich zentral zwischen seinen Eltern gezeichnet, deren gesellschaftlich geprägte Verhaltenserwartung sich in ihren Blicken widerspiegelt. Die Blicke der Eltern laufen achsenförmig von zwei Seiten aus auf Heinrich zu. Dieser hingegen scheint trotz der Erwartungshaltung der Eltern unbeeindruckt seine eigenen Bedürfnisse zentral zu setzen. Insofern zeigt sich schon auf Bildebene ein Durchbrechen der elterlichen Front. Die Grundthese scheint zu sein, dass die Elterngeneration schon weiter in die gesellschaftlichen Konstrukte eingebunden ist und diese daher nicht mehr als Konstrukt wahrnimmt. Heinrich als das Kind hingegen scheint noch einen natürlich-intuitiven Zugang zu seinen eigenen Bedürfnissen zu haben. Bildlich wird dabei durch die Lücke zwischen den Eltern deutlich, dass Heinrich die gesellschaftliche Sicht seiner Eltern von unten durchbrechen kann.

Dass sich diese Wertung durchsetzt, zeigt sich daran, dass Heinrich am Ende tatsächlich die Gelegenheit bekommt, ein Ei auszubrüten. Muss er zunächst mit einem Golfball vorliebnehmen, erlaubt ihm seine Mutter nach Rücksprache mit seinem Vater dann doch, eines ihrer Eier auszubrüten. Heinrich ist dieser Aufgabe gewachsen und schafft es, das Küken auszubrüten und sogar großzuziehen. Sein Vater ruft sofort aus: "[D]as ist jetzt wohl dein Küken." Diese Aussage impliziert, dass er Heinrichs Rolle anerkennt. Die Mama bewertet Heinrichs Verhalten als "richtig gut" und unterstützt ihn damit bei seiner Aufgabe. Die Bildebene ist hierbei stark symbolisch aufgeladen, indem nun eine sehr idyllisch blühende, grüne Landschaft ohne künstliche Begrenzungen ausgestaltet wird. Diese stellt einen deutlichen Gegensatz zur Ausgangssituation dar, in der der Hühnerhof mit einem kargen Boden sowie einem Zaun als einer künstlichen Grenze ausgestaltet ist. In der Anschlusskommunikation mit kindlichen Rezipientinnen und Rezipienten könnte diese bildliche Symbolik genutzt werden, um den Unterschied zwischen der kargen, etwas trostlos wirkenden Ausgangssituation und dem idyllischen Ende herauszuarbeiten. Die räumliche Ausgestaltung lässt sich schon mit Kindern als Symbol für Heinrichs Selbstentfaltungsprozess in den Blick nehmen.

Diese Freiheit zur Selbstentfaltung hat allerdings Grenzen: Wie laut Benner und Zender (2022, 6) typischerweise in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur, liegen nämlich auch hier bis zum Schluss weiterhin binäre Geschlechterrollenverhältnisse vor. Dies zeigt sich etwa daran, dass dem Küken sowohl auf figuraler- als auch auf extradiegetischer Erzählebene ein Geschlecht verliehen wird. So heißt es: "Das Bruderküken findet seinen Bruderpapa sowieso toll." Dass auch Heinrich bis zum Schluss eindeutig als Papa betitelt wird, untermauert dieses Festhalten an Kategorien (vgl. Beck 2022, 30). So heißt es auch, dass das Küken später einmal die Katze verjagen solle, was impliziert, dass auch diesem Küken wieder typische Verhaltenserwartungen auferlegt werden. Der letzte Satz lautet: "Und wenn es dann auch mal brüten will, kann Heinrich ihm zeigen, wie das geht." Dieser Schlusssatz impliziert, dass sich das nicht geschlechtstypische Verhalten weiterhin als eine temporäre Ausnahme erweist. Positiv ist dennoch, dass Heinrich und nicht die Mutter die Aufgabe des Vorbildes für das Ausbrüten übernehmen soll.

Für kindliche Rezipientinnen und Rezipienten erzeugen die anthropomorphisierten Tierfiguren einen ästhetischen Schonraum. Durch die Verlagerung ins Tierreich wird das Thema verfremdet, sodass die Kinder sich in den Figuren wiederfinden, ohne dabei aber direkte Schlüsse auf sich selbst und die außerdiegetische Realität zu ziehen. Dennoch wird eine Selbstreflexion angeregt, weil durch die Darstellungsweise eine große emotionale Nähe zu Heinrich hergestellt wird. Durch Mimik, Gestik und sprachliche Gestaltung ebenso wie die humorvolle Darstellung in Bild und Text wird dessen Drang nach Selbstentfaltung sehr gut nachvollziehbar und nachfühlbar gemacht. Viele der Tierfiguren (z.B. die Kühe oder die Mäuse) werden geschlechtsneutral gezeichnet. Besonders hervorzuheben ist hierbei der Frosch, über den es heißt: "Man kann gar nicht erkennen, ob es ein Mamafrosch ist oder ein Papafrosch." Weder auf Text-, noch auf Bildebene wird aufgelöst, ob es sich um einen weiblichen oder männlichen Frosch handelt. Somit wird deutlich, dass die Zuordnung zu einem Geschlecht äußerlich bleibt.

Die Hühner werden durchaus mit Geschlechtsmerkmalen ausgestattet. Beispielsweise haben nur die Hennen Wimpern, was die weibliche Zuordnung affirmiert, während die Hähne im Gegensatz zu den Hennen ein buntes Gefieder haben. Bei den Hühnern wird damit deren kategoriales Denken auch auf der Bildebene durch deren Optik symbolisiert. Positiv hervorzuheben ist allerdings, dass diese Kategorisierung nicht durch Geschlechtsträger wie beispielsweise Kleidung perpetuiert wird.

Fazit

Heinrich will brüten! spielt mit dem Durchbrechen von Geschlechterklischees und regt durch seine originellen Illustrationen und die ansprechende Textgestaltung sehr gelungen zu einer Reflexion von Geschlechterrollen an. Bedauerlich ist, dass die Ordnung dennoch stark an binären Geschlechterrollen festhält und damit die eigentliche Hinterfragung nicht vollends einlöst.

Die Anreicherung der Textebene aus Anette Thumsers Feder durch Nikolai Rengers Illustrationen schafft aber ohne Zweifel einen gelungenen ästhetischen Schonraum, der zum Entdecken, Stolpern, Staunen und zur Selbstreflexion anregt. Dadurch, dass Heinrich als junges Küken dargestellt wird, bietet sich insbesondere für junge Rezipientinnen und Rezipienten ab drei Jahren ein großes Identifikationspotenzial. Durch das Zusammenspiel zwischen Text- und Bildebene ist das Bilderbuch zum eigenständigen Entdecken für Kinder geeignet, die noch nicht lesen können, durch die vielen Stutz-Momente ist das Buch aber auch anregend für ältere Kinder. So lässt sich auch noch ein unterrichtlicher Einsatz in der dritten oder vierten Klasse denken. Auch in der Privatrezeption bietet das Buch für Kinder wie für Erwachsene viel Raum für ein gemeinsames Entdecken.

Quellen

  • Beck, Natalie: Perspektiven eines gendersensiblen Literaturunterrichts mit ausgewählten kinderliterarischen Texten, Schwäbisch Gmünd, unveröffentlichte Bachelorarbeit. 2022.
  • Bernhardt, Sebastian: Transgender in der Kinder- und Jugendliteratur – Analysen und literaturdidaktische Perspektiven, in: Jeleč, Marijana (Hrsg.): Tendenzen der Gegenwartsliteratur. Literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Perspektiven, doppelt peer-reviewed, Berlin: Peter Lang 2019, S. 127-148.
  • Benner, Julia & Zender, Ivo: LGBTIQA* in Kinder- und Jugendliteratur. Zur Einführung. In: Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien (AJuM) der GEW (Hrsg.): KJL&M 22.1. Regenbögen. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Kinder- und Jugendmedien. 2022. S. 3-18.
  • Gansel, Carsten: Störungen in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien – Aspekte einer Theorie der Störung. In: ders. et al. (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur heute, Göttingen: V&R unipress. 2022. S. 173-188.
  • Rendtorff, Barbara: Jugend, Geschlecht und Schule. In: Hagedorn, Jörg (Hrsg.): Jugend, Schule und Identität. Selbstwerdung und Identitätskonstruktion im Kontext Schule. Wiesbaden: Springer VS 2014. S. 283-295.
Titel: Heinrich will brüten!
Autor/-in:
  • Name: Anette Thumser
Illustrator/-in:
  • Name: Nikolai Renger
Erscheinungsort: Bamberg
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: Magellan
ISBN-13: 978-3-7348-2056-4
Seitenzahl: 32
Preis: 15
Altersempfehlung Redaktion: 3 Jahre
Thumser: Heinrich will brüten (Cover)