Inhalt

Mit dem einschlagenden Satz "Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben" beginnen Astrid Lindgrens den Zweiten Weltkrieg dokumentierende Kriegstagebücher – diese führt sie vom 1. September 1939 bis Silvester 1945 kontinuierlich, ohne längere Unterbrechungen. "In den Tagebüchern beschreibt sie anschaulich ihr Oasen-Dasein […] eingeschränkt nur von Lebensmittelrationierungen, dem zeitweise lahmliegenden öffentlichen Verkehr, von Verdunkelungen, dem militärischen Bereitschaftsdienst des Mannes und steigenden Preisen." (Rávic Strubel 2015, S. 5) Gerade aus diesem Oasen-Dasein entwickelt Lindgren jedoch ein besonderes Verantwortungsgefühl der Welt gegenüber und damit das Bedürfnis, das Kriegsgeschehen mitzuverfolgen und zu dokumentieren.

Zunächst informiert sie sich mit Hilfe von Zeitungsartikeln, Nachrichten und Büchern, was in der Welt geschieht. Ab 1940 stellt Lindgrens Arbeit in der Abteilung für Briefzensur des schwedischen Nachrichtendienstes, wo ihre Aufgabe darin besteht, die Briefe auf landeskritische Inhalte zu prüfen, eine weitere Informationsquelle dar. Einige der Briefe schreibt sie ab und nimmt die Abschrift mit nach Hause, was streng verboten ist:

Am 15. dieses Monats habe ich meine geheime 'Bereitschaftsarbeit' angetreten, die so geheim ist, dass ich es nicht einmal wage, hier darüber zu schreiben. […] Und mir ist vollkommen klar geworden, dass es im Augenblick kein Land in Europa gibt, wo man so unberührt von den Auswirkungen des Krieges lebt wie hier. (Lindgren 2015, S. 69)

Besonders interessant ist die 'skandinavische' Sichtweise der Autorin: Augenzeugenberichte und -tagebücher osteuropäischer Einwohner liegen in großer Zahl vor, ein Zeitdokument aus dem neutralen Schweden zur selben Zeit ist außergewöhnlich. Thematisiert wird diese Neutralität Schwedens während des Zweiten Weltkriegs immer wieder und bildet den roten Faden zu den Beschreibungen der Kriegsmanöver in den restlichen Ländern.

Kritik

Mit Die Menschheit hat den Verstand verloren liegen seit 2015 Astrid Lindgrens Kriegstagebücher von 1939 bis 1945 erstmals auch dem deutschen Leser vor und zwar in einer vollständigen, aufwändigen Ausgabe. Zwischen die Aufzeichnungen sind immer wieder faksimilierte Seiten mit ausgewählten Artikeln und Briefen hinzugefügt, außerdem bisher unveröffentlichte Familienfotos, ein Nachwort Lindgrens Tochter Karin Nyman sowie ein Briefwechsel mit dem Bonnier-Verlag, der durch seine Absage zum Pippi-Manuskript berühmt wurde. (Bis vor kurzem wurden in der Sekundärliteratur zu Astrid Lindgren nur ausgewählte, immer wiederkehrende Zitate aus ihren Kriegstagebüchern angeführt.)

Die Tagebücher erzählen von dem Alltag einer durchschnittlichen bürgerlichen Familie in Schweden, die ein vom Kriegsgeschehen ausgespartes Leben führt, das aber stets von der Kriegsangst begleitet wird. Mit einer einfachen, unmittelbaren Sprache versucht Lindgren, Zeugnis über das durch Grauen und Schrecken geprägte Kriegsgeschehen abzulegen. Als Lindgren im Alter von 32 Jahren ihre Aufzeichnungen beginnt, ist sie noch keine Schriftstellerin – bis auf wenige Kurzgeschichten in Zeitschriften ist von ihr noch nichts publiziert worden: Ihr Name ist schwedischen geschweige denn europäischen Kreisen noch völlig unbekannt. Im Laufe der sechs Kriegsjahre schreibt sie jedoch parallel zu dem Kriegstagebuch an drei Büchern: Pippi Langstrumpf, Britt-Mari erleichtert ihr Herz sowie an Kerstin und ich, was sie auch in ihrem Tagebuch erwähnt. Sie klebt den Bericht über den Wettbewerb für ein Mädchenbuch des Verlags Rabén & Sjögren ein, bei dem sie den zweiten Preis für Britt-Mari erleichtert ihr Herz gewinnt, und berichtet von ihrer "ersten Rezension" (vgl. Lindgren 2015, S. 382). Gebannt folgt der Leser hier dem Entstehungsprozess dieser später so berühmten Kinderbücher.

Dennoch bildet der Kriegsverlauf immer das wichtigste Thema der Tagebücher, auch wenn ihre Sorgen und Familienprobleme Lindgren zeitweise vom Krieg ablenken. "Das Besondere am Tagebuch ist, dass unmittelbar aus den Ereignissen heraus gesprochen wird. So eröffnet sich heutigen Lesern vor einem Wissenshorizont, den der Abstand von mehr als siebzig Jahren mit sich bringt, das Geschehen so, wie es sich Lindgren im schwedischen Inseldasein von Tag zu Tag darstellte." (Rávic Strubel 2015, S. 9) Der andere Aspekt, der Lindgrens Tagebuch so interessant macht, ist die Tatsache, dass es Zeugnis darüber ablegt, wie viele und welche Informationen über das Kriegsgeschehen in einem neutralen Land wie Schweden ankamen. So beweist beispielsweise das Tagebuch, dass man durch das Lesen von Zeitungen und Büchern in Schweden vor 1945 von den Konzentrationslagern hätte wissen können. Bereits 1943 hat Lindgren in Büchern von Deportation und Vernichtung erfahren. „Ich kann niemals an ein Regime glauben, das die Konzentrationslager Oranienburg und Buchenwald errichtete“, schreibt Lindgren bereits im Jahr 1940. Auch von dem sowjetischen Mord an 10.000 polnischen Offizieren in Katyń berichtet sie.

Wie Lindgrens Tochter Karin Nyman im Nachwort schreibt, hat ihre Mutter mit der Dokumentation des Kriegsgeschehens einzigartige Arbeit gleistet. Was Karin zunächst für ein gewöhnliches Vorgehen einer jeden Mutter in Schweden hielt, erwies sich im Nachhinein als etwas Besonderes:

Jetzt weiß ich, dass sie vermutlich einzigartig war, eine 32-jährige zur Sekretärin ausgebildete Hausfrau und Mutter, ohne Erfahrung, sich mit Politik auseinanderzusetzen, der es so wichtig war, für sich selbst zu dokumentieren, was in Europa und auf der Welt geschah, dass sie das Ausschneiden und Kommentieren über die gesamten sechs Kriegsjahre durchhielt. Es ist auch etwas Besonderes, dass ihre schnell hingeworfenen Aufzeichnungen so gut geschrieben sind, dass sie ungekürzt wiedergegeben werden können und sofort zu einer fesselnden Lektüre werden. (Nyman 2015, S. 525)

Diejenigen Leser, die in den Kriegstagebüchern die Astrid Lindgren wiederzufinden hoffen, die sie aus ihren Büchern kennen, werden wohl etwas enttäuscht sein: Lindgren schreibt wenig über ihre Familie und sich selbst (und wenn doch, dann ebenfalls im Charakter der Berichterstattung), auch macht sie sich selbst fast nie zum Gegenstand der Betrachtung. Ihre Tagebucheinträge spiegeln viel eher Lindgrens melancholische und wehmütige Seite : "Angesichts einer Welt, die so voller Unglück und Elend ist, bekommt alles viel schärfere Konturen. Es ist so geballt elendig, dass ich, als ich gestern einen Kinderchor aus Deutschland mit klaren Stimmen 'Stille Nacht, heilige Nacht' singen hörte, in die Küche gehen und weinen musste." (Lindgren 2015, S.157) Damit ergänzen die Tagebücher das Bild von einer oft von Weltschmerz geplagten Schriftstellerin, das man auch bei der Lektüre der Briefwechsel mit Sara Schwardt und Louise Hartung gewinnt.

Und eine weitere Eigenschaft Lindgrens tritt hier zutage: Die Gabe, vieles beim Namen zu benennen, kurz zusammenzufassen und mit ironischer Distanz zu kommentieren oder zu präsentieren. Auch die treffsichere, bissige und kritische Frau und Denkerin, die im späten Alter als Kritikerin von Massentierhaltung und Steuergesetzen auftritt, ist in den Tagebucheinträgen schon angelegt und ersichtlich – und steht nur in vermeintlichem Gegensatz zu ihren erfolgreichen und vor Komik strotzenden Kinderbüchern.

Fazit

Heute werden [Lindgrens fiktive Welten] öfter – durch touristische Vermarktungsstrategien verzerrt – als falsche Idyllen wahrgenommen, abgetan als Bullerbü-Kitsch. Vor dem Hintergrund der Kriegstagebücher tritt ihre ursprüngliche Kernaussage wieder deutlich zutage: Jedes Kind sollte das Recht haben und das Glück erfahren, in 'Geborgenheit und Freiheit' aufzuwachsen. (Rávic Strubel 2015, S. 13)

Wie schon ihren Kinderbüchern, verfällt man Astrid Lindgren auch hier, obschon sie Furchtbares schildert und an der Menschheit zweifelt. Die Klarheit der dargelegten Geschehnisse und Kriegsentwicklung lässt Lindgrens Tagebücher empfehlenswert für den Geschichtsunterricht erscheinen – der 'skandinavische' Blickwinkel dürfte außerdem wohltuend wirken und den Horizont auf Finnland, Norwegen und Dänemark erweitern. Die Menschheit hat den Verstand verloren ist ein bereicherndes Zeitdokument, das das Kriegsgeschehen von 1939 bis 1945 so darstellt, wie es sich zu jener Zeit der schwedischen Gesellschaft dargeboten hat – dargelegt mit jener pointierten Scharfsichtigkeit und Sprachklarheit, die Astrid Lindgren so eigen ist.

Literatur

  • Nyman, Karin: Nachwort. In: Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945. Ullstein: Berlin, 2015, S. 525-527.
  • Rávic Strubel, Antje: Vorwort. In: Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945. Ullstein: Berlin, 2015, S. 5-16.

 

KinderundJugendmedien.de-Profil von Helena Hruzik

Titel: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945
Autor/-in:
  • Name: Lindgren, Astrid
Erscheinungsort: Berlin
Erscheinungsjahr: 2015
Verlag: Ullstein
ISBN-13: 9783550081217
Seitenzahl: 576
Preis: 24,00 €
Lindgren, Astrid: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945