Inhalt

An Jennys erstem Tag in der neuen Klasse prasseln rassistische Kommentare aufgrund ihrer Hautfarbe auf sie ein. Die Lehrerin teilt ihr Tim als Sitznachbarn zu. Nach anfänglicher Skepsis – eigentlich will Tim lieber allein sitzen – entwickelt sich eine innige Freundschaft, die alle Angriffe von außen gleich viel kleiner scheinen lässt. [Das Hörspiel steht in der ARD Audiothek zum Abspielen und Herunterladen zur Verfügung.]

Kritik

Dem Hörspiel ist eine Triggerwarnung vorgeschaltet: „Hallo zusammen, eine Info vorweg. In dem Hörspiel, dass ihr gleich hört, macht ein Kind Erfahrungen mit Rassismus“ (00:03). Diese Warnung ist dringend nötig, immerhin geht es in dem Hörspiel um ein Mädchen, das aufgrund seiner Hautfarbe rassistisch beleidigt wird. Durch die Warnung können insbesondere von Rassismus Betroffene selbst entscheiden, ob sie das Hörspiel weiter hören, und zudem ist durch die Warnung bereits eine Art Immersionsbarriere gegeben, durch die die aufstörende Handlung nicht verstörende Effekte mit sich bringt.

Vor allem die Aussagen der Mitschülerinnen Saskia und Vivian sind explizit rassistisch, werden aber diegetisch abgewertet, indem beide Sprechstimmen überheblich und abfällig intonieren und dadurch ein negatives Bild der Figuren entwerfen. Schon bei der Vorstellung Jennys durch die Lehrerin erklingt der affektiert intonierte Kommentar „Uah, die ist ja richtig schoko“ (01:04) von Saskia. Später auf dem Schulhof meinen Saskia und Vivian, Jenny käme wohl aus Afrika, und reduzieren sie auf ihre Haarstruktur. Diese Szene wird wie das gesamte Hörspiel aus der Innensicht Jennys erzählt, die zugleich als handelnde Figur und Ich-Erzählerin fungiert.

Einen Höhepunkt erreichen die Attacken gegen Jenny in einer Szene, in der sie früher aus der Schule nach Hause kommt und vor der Wohnung auf ihre Mutter warten muss, da sie selbst keinen Schlüssel hat. Noch bevor die beiden Mitschülerinnen auftauchen, wird durch die Ich-Erzählerin Jenny markiert: „Ist ein bisschen doof, da vor der Tür zu sitzen. Kommt garantiert immer einer vorbei, der blöde Sprüche macht“ (09.38). Dieser Kommentar stellt eine weitere, diegetisch inszenierte Triggerwarnung dar, die eine Immersionsdistanz zu den folgenden Schilderungen herstellt. So erklingen im nächsten Moment die Stimmen von Saskia und Vivian, die Jenny herabwürdigen. Beispielsweise operieren sie mit einem „oben“ vs. „unten“-Gegensatz, wenn sie betonen, dass sie auf dem Berg wohnen und „solche wie du“ dort nicht oft hinkommen könnten. Diese wahllose Abwertung wird durch die naive Begründung „sagt mein Papa“ (10:02) legitimiert.

Entschärft wird die Situation dadurch, dass diese Szene überblendet wird durch die Musik aus der Feder von Bernd Keul, eine mit Leichtigkeit gespielte Gitarrenmelodie, unterstützt in unterschiedlichen Variationen durch weitere Instrumente, die die beklemmende Stimmung auflöst und dadurch eine aufheiternde Distanz zu den Schilderungen aufbaut.

Zentral innerhalb des Hörspiels ist die Freundschaft zwischen Tim und Jenny. Tim steht seiner neuen Sitznachbarin zunächst ablehnend gegenüber. Statt sie zu begrüßen, stellt er klar, dass er lieber allein sitzen würde. Allerdings ist seine Ablehnung nicht rassistisch begründet, vielmehr ist er einfach als Eigenbrötler gezeichnet, der nicht neben einem Mädchen sitzen will. Nach einigen Tagen äußert Tim mit fasziniertem und eindeutig zugewandtem Tonfall: „Du siehst aus wie Jim Knopf“ (04:49). Diese intermediale Anspielung auf Michael Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (1960) bringt eine interessante Meta-Perspektive in das Hörspiel. Julia Voss bezeichnet Endes Roman als „Gegengeschichte zur nationalsozialistischen Vereinnahmung der Evolutionstheorie“ (Voss 2008, S. 33), allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Buch bei allen antirassistischen Ansätzen dennoch rassistische Klischees verwendet (vgl. Hermann 2020).

So wie das Kind in Jim Knopf gleich zu Beginn der Handlung auf den Namen Jim getauft wird, weil der Lokomotivführer Lukas meint, er sähe aus wie ein Jim, will auch Tim aus dem Hörspiel Jenny auf diesen Namen taufen, weil sie genauso aussehe. Dabei lässt sich festhalten, dass Tims Verhaltensweise ähnlich wie Endes Roman nicht bewusst rassistisch ist. Er versucht sogar, Jenny vor den Attacken der Mitschülerinnen zu schützen. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass auch er Jenny auf ihre Hautfarbe reduziert und damit selbst wiederum den alltagsrassistischen Blick reproduziert. Tims ungewollt rassistische Zuordnung wird allerdings dadurch in einen entlastenden Kontext gestellt, dass auch diese Situation nicht aus dem Nichts kommt. Gleich zu Beginn des Hörspiels gibt es nämlich eine Prolepse, in deren Rahmen die Ich-Erzählerin betont, sie fände es lustig, wenn Tim sie Jim nenne. Somit ist von vornherein klar, dass sie nicht dauerhaft verletzt ist. Tim grenzt sie nicht aus, sondern schafft mit den sich reimenden Namen eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden Kindern.

Der Großteil der eigentlichen Handlung spielt sich in den Ferien ab, die Jenny gemeinsam mit Tim und seiner Mutter an der Nordsee im Ferienhaus von Tims Onkel verbringt. Die beiden genießen die unbeschwerte Zeit, albern gemeinsam herum und spielen gemeinsam Fußball. Der Ballsport zieht sich leitmotivisch durch das Hörspiel: Beim Fußballspielen lassen sich alle Probleme lösen.

Doch in die Harmonie des Urlaubs bricht ein Streit herein: Als Jenny zum Geburtstag das erste Mal ein Foto ihres Vaters in den Händen hält, zerreißt Tim dieses versehentlich. Der Streit und die hochkochenden Emotionen werden in der Folge sonosphärisch auf eine Symbolebene gehoben, indem Momente der Disharmonie durch laute Möwenschreie unterstützt werden, während die Möwen in harmonischen Szenen ruhig sind.

Schließlich feiert Jenny ihren Geburtstag mit Tim und seiner Mutter, und zu ihrer freudigen Überraschung kommen auch Tims Vater und Jennys Mutter dazu. Der Höhepunkt des Geburtstags ist das Geigenspiel von Tims Vater, einem Vollblutmusiker. Neben dem Fußball symbolisiert auch die Musik ein Element, das Menschen vereint. Erst als Tims Vater bemerkt, dass er schon viel zu spät dran ist, verstummt die Geige und die unruhigen Möwenschreie werden wieder dominant. Die Situation, die nun folgt, ist brenzlich: Tims Vater fährt in die Flut und sein Auto steht schon nach Sekunden fast komplett im Wasser. Auch diese Szene ist wieder sonosphärisch angereichert – die Stimmen klingen nun ängstlich und aufgeregt, die Musik erzeugt Spannung. Als Tims Vater durch einen Rettungshubschrauber gerettet wird, beruhigt sich die Aufregung und es erklingt erneut die Geige, auf der Tims Vater beim Wegfliegen spielt.

Das Abenteuer am Geburtstag schweißt Jenny und Tim noch enger zusammen. Und auch die Namensgebung wird gendersensibler: Jenny darf Tim nun manchmal auch Penny nennen (dann reimen sich die Namen immer noch, aber beide haben nun Mädchennamen) und die beiden bemerken, dass Saskia und Vivian eigentlich nur Scheinriesen sind, die keine echte Gefahr darstellen – eine letzte Referenz auf Herrn Tur Tur, den Scheinriesen aus Endes Jim Knopf-Roman.

Fazit

Das Hörspiel Tim und Jim – Scheinriesen im Klassenzimmer setzt sich facettenreich mit Rassismus auseinander und sensibilisiert für den eigenen unbewussten Rassismus. Ganz ohne Klischees kommt die Handlung jedoch nicht aus: Fraglich bleibt beispielsweise, warum Jennys Mutter ausgerechnet als Aushilfskraft arbeitet oder warum die privilegierte weiße Familie das weniger privilegierte Kind of Colour in den Sommerurlaub einlädt. Allerdings kommen auch augenzwinkernde Klischees bezüglich der deutschen Erbsenzählerei nicht zu kurz, etwa wenn Tims Mutter Jenny nicht einmal das Fahrgeld für den Zug vorstrecken möchte, als diese nach Hause fahren will.

Das Hörspiel schafft durch das Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz ein Einfühlen in Jennys Perspektive, ohne überfordernd zu wirken. Allerdings ist es mit seinen intermedialen Anspielungen teilweise sehr komplex und fordert eine reflektierte Anschlusskommunikation. Aus diesem Grund bietet sich das Hörspiel für Kinder ab 9 Jahren an.

Literatur

Titel: Tim und Jim – Scheinriesen im Klassenzimmer
Regie:
  • Name: Hans Helge Ott
Autor/Bearbeitung:
  • Name: Hans Zimmer
Sprechende: Béla Häuser, Anna Böger, Susanne Schrader, Lisia Spiegel, Steffen Schroeder, Franziska Hofele, Maja Unselt, Petra Fehrmann
Produktion: hr/WDR/NDR
Erscheinungsjahr: 2022
Dauer (Minuten): 46
Altersempfehlung Redaktion: 9 Jahre
Zimmer, Hans: Tim und Jim – Scheinriesen im Klassenzimmer (Hörspiel)