Inhalt
Eine Schulklasse, eine ganz normale Schulklasse, Jungs und Mädchen, nicht mehr 5. Klasse, nicht mehr 7. Klasse, irgendwie zwischen 14 und 16 Jahren alt. Da liegt Luis plötzlich blutend im Umkleideraum der Sporthalle und schreit. Sein Freund Luca beugt sich über ihn, helfend oder schlagend? Er wischt Blut weg, der Krankenwagen kommt, Luca verschwindet, Luis muss verarztet werden.
Was ist geschehen? Hat Luca seinen Freund Luis ins Gesicht geschlagen? Mit einem Fausthieb oder gar mit einer Eisenstange, wie es angeblich von Mitschülern gesehen wurde? Oder war’s ein Unfall, oder doch nur Nasenbluten? Die Klasse beginnt zu rekonstruieren. Denn jeder hat etwas gesehen oder eben auch nicht. Zumindest hat jede und jeder eine Meinung zu dem Vorfall, zu Luis und zu Luca. Alle kennen sich schon seit vielen Jahren, die Feind- und Freundesbilder sind zementiert. Luis und Luca waren schon im Kindergarten zusammen, wurden beste Freunde. Warum sollten sie sich schlagen? Welche Rolle spielt Alessia in dieser Geschichte, die zusammen mit Luis Eis essend auf der Wiese gesehen wurde, die aber eigentlich "mit diesem Serhat aus der Zehnten was hat" (S. 35). Oder doch nicht? Und welche Rolle spielt es, dass sich Luca als non binäre Person bezeichnet.
HERR MEINDL
Vielleicht jetzt einer mal von den Jungs. Luca. Was ist denn mit dir?LUCA
Ich möchte bitte nicht als Junge bezeichnet werden. Wenn Sie meine Bitte ignorieren, dann ist das Diskriminierung gegenüber nichtbinären Personen. (S. 3)
In rückblickenden Szenen versucht sich die Klasse ein Bild zu machen. Dabei rutscht der eigentliche Vorfall immer weiter in den Hintergrund und die Bilder und (Vor)Urteile, die die Schülerinnen und Schüler voneinander haben, ins Zentrum. Aus einem Ereignis werden Geschichten, aufgeblasen, ausgeschmückt, spekulativ, nicht immer die Wahrheit suchend. Nur die beiden "Hauptfiguren", Luca und Luis, werden mit ihren Namen benannt. Eine Lehrerin, Frau Ludvig, ein Lehrer, Herr Meindl, und Luis Vater haben Kurzauftritte. Alle anderen – mindestens sechs Darstellerinnen und Darsteller verlangt die Autorin laut Textbuch – bleiben namenlos, ihre Stimmen werden mit IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE betitelt.
IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Ich will ja nur mal sagen. Nur mal sagen. Dass Luis, also der ist auch nicht ohne. Ich will das nur mal sagen.IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Das stimmt, der hat schon malIRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Das ist doch ein alter Hut. Das wissen wir doch alle, das musst du nicht wiederIRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Und trotzdem. Das muss man einfach mal dazu sagen, wenn man an Luis denkt.IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Und da war ja auch Alessia beteiligt.IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
War sie doch gar nicht.
Luca und Luis kommen in den Szenen kaum zu Wort. Es wird wenig mit ihnen, sondern mehr über sie gesprochen. Das letzte Bild Lucas Geschichte gehört allerdings den beiden, bringt aber auch keine Aufklärung: Während Luis im Krankenhaus auf das Röntgen seiner Nase wartet, versucht Luca Kontakt zu ihm aufzunehmen. Anfangs per Mail, Luis jedoch antwortet nicht. Luca radelt ins Krankenhaus, traut sich aber nicht in die Notaufnahme. Stattdessen setzt er sich vor Luis Haus, nimmt eine Sprachnachricht auf und sendet sie an Alessia. Dummerweise stellt er diese in den Klassenchat. LUCA: Ich war echt neben der Spur (S. 59). Während Luis sich an frühere Zeiten erinnert.
LUIS
Als wir klein waren, haben wir uns mal mit einer Nadel in die Finger gestochen, um Blutgeschwister zu erden. Und da hat Luca gesagt: Ich werde immer an deiner Seite sein. Und ich habe damals gedacht, dass ich mir den Satz für immer merken würde. Ich weiß gar nicht mal, ob Luca das noch weiß, dass Luca das mal gesagt hat. Aber ich habe mir den Satz für immer gemerkt. Obwohl es irgendwie, naja, es ist schon eine kitschige Geschichte. (S. 60)Und Luca wartet weiter vor Luis Haustür, die halbe Nacht.
LUCA
Ich hab auf ihn gewartet, bis er nachhause kam. Da war es schon dunkelLUIS
Was machst du denn hier? (S. 61)
ENDE
Kritik
SagdochmalLuca bietet vielfältige Anlässe für eine kritische Betrachtung. Das Stück ist alles andere als eine problemorientierte Schulgeschichte und wäre gänzlich missinterpretiert, wenn es in die Schubladen z.B. englischer, realistischer Jugendstücke (1) oder in die der Dramaturgie der vielen Stücke des Grips-Theaters (2) gesteckt wird. Goreliks Stück, das vordergründig einen simplen Plot verhandelt, ist inhaltlich vielschichtig, formal anspruchsvoll und offen in seiner Aussage.
"In Lena Goreliks ausgezeichnetem und im besten Sinn mehrdeutigem "Vexierbild" ver(un)sichert uns eine ganze Klasse, zu wissen, was wirklich passiert.." (Website SagdochmalLuca, Theater am Ortweinplatz, Spielzeit 2023/24, Graz)
Die Dramaturgie des Stückes folgt dem klassischen Muster des geschlossenen Dramas und bringt Zeit, Raum und Handlung einheitlich zusammen. Vom Vormittag, dem Zusammenprall der beiden zentralen Figuren bis zum Wiedersehen beider am späten Abend vergehen ein ganzer Tag. Das Stück verlässt nicht den lokalen Raum der ungenannten Kleinstadt und die Handlung dreht sich konsequent um das eine Thema, die Suche nach der Wahrheitsfindung. Aber Goreliks Dramaturgie öffnet geschickt diese geschlossene Form und bedient sich dabei zweier theatraler Mittel: die des Zeitsprungs mit Vor- und Rückblende und die des Theaters auf dem Theater.
Auf der Suche nach den Gründen für den scheinbaren Konflikt zwischen Luca und Luis ziehen die Mitschüler immer wieder Erlebnisse aus der Vergangenheit herbei:
IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Eigentlich muss man da anfangen, wo Luis und Luca sich gestritten haben. Letzte Woche schon. Beim Ausflug. Und da ging’s ja um was ganz anderes, es ging darum, was da im Wald war, und dass AlessiaIRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Das musst du doch jetzt nicht erzählen, das ist doch scheißegal, was beim Ausflug war, das hat doch damit nichts zu tun, Digger. Vielleicht war Luca auch einfach sauer, wegen dem, was vorher war, bei Frau Ludvig. Vielleicht hatte Luca einfach schlechte Laune. Und hat einfach zugeschlagen. Einfach ausgetickt.IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Lass mich doch jetzt mal erzählen, Mann. Ich glaub nämlich schon, dass das, was auf dem Ausflug war, was damit zu tun hatte. Und ich glaub, dass du das nicht hören willst, weil du dich so gern aufspielen möchtest, weil du als Erster in der Garderobe ... (S. 5)
In den folgenden Kapiteln wird immer weiter versucht, aus Beobachtungen vergangener Ereignisse, z.B. auf einer Party, beim Eisessen oder durch eine Audiobotschaft Rückschlüsse zu ziehen auf die Beziehung zwischen Luca und Luis und letztendlich, den Tathergang zu rekonstruieren.
IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Luca hat zugeschlagen.IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Das wissen wir doch schon, das ist doch nix Neues.IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Aber wie! So Boxkampf-mäßig. Mit Faust. Direkt ins Gesicht.IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Na klar, wohin denn sonst. Sonst hätte die Nase ja wohl nicht geblutet.IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Ich dachte, mit Eisenstange?IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Das war die Faust. Das war eindeutig eine Faust.IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Ich hab die Faust auch gesehen. So krass.IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Direkt ins Gesicht, aber urplötzlich. So aus dem Nichts. Gerade war noch alles in Ordnung. Gerade haben wir noch gelacht, und dann, so aus dem Nichts, so aus dem Nichts schlägt Luca einfach zu. (S. 46)
Basis aller Handlungen sind die erzählten Geschichten der Mitschülerinnen und Mitschüler, die stets individuell gefärbt, spekulativ und widersprüchlich sind. Neben dem Nacherzählen der Beobachtungen nutzen die Schülerinnen und Schüler auch die Form des Nachspielens einzelner Szenen.
IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Die standen sich so gegenüber. Luca, Luis stellt euch mal so gegenüberLUCA
Tun wir doch schon.IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Das stimmt doch gar nicht. Die haben sich doch noch umarmt. Das weiß ich noch. Weil das so, also das war so, warte, ich zeig’s dir, das war richtig niceUnd als ihnen gezeigt wird, wie sie sich umarmen sollen, umarmen sich Luca und Luis und bleiben so stehen in dieser Umarmung, warten vielleicht, bis sie jemand aus dieser Umarmung wieder erlöst.
IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE
Was erzählst du denn da? Warst du überhaupt in der Nähe? Du warst doch bei Alessia, Alessia trösten. Ich war da, bei den Jungs, also bei Luca und Luis, und die beiden haben sich gar nicht umarmt, die haben gestritten...
Luis löst sich aus der Umarmung mit Luca und zeigt seinen bösen Blick. (S. 12f)
Der Titel des Stückes mit seinem Imperativsatz SagdochmalLuca widerspricht dem Stückinhalt. Denn dieser Satz fällt nicht einmal in dem Stück, Luca wird nicht aufgefordert über den Vorfall zu sprechen. Es lässt sich gut über Luca reden, aber nicht mit ihm. Auch das ein Kennzeichen unserer aufgeheizten Medien- und Nachrichtenwelt, in der oftmals nicht mehr nach der Quelle einer Meldung gefragt wird, sondern Meinungen ungeprüft weitergegeben werden. Aus dieser Perspektive sollte das Stück politisch interpretiert werden.
Die Autorin untertitelt ihr Stück mit "Ein Stück für junge Menschen" (S. 1), der Verlag gibt die Altersempfehlung mit 12+, das uraufführende Theater schreibt "Alter 14+, ab 9. Schulstufe". Die Jury zum Deutschen Kindertheater- und Jugendtheaterpreis nominiert es für die Kategorie Kinderstück. Diese Spannbreite der Altersempfehlungen lassen sich mit dem Blickwinkel, mit dem auf das Stück geschaut werden kann, erklären. Die agierenden Personen des Stücks sind Jugendliche. Die Themen des Stückes, zu denen auch Lucas non-binäre Orientierung gehört, sind universell und sprechen alle Altersgruppen ab den weiterführenden Schulen an.
Das Stück ist in zwölf Szenen aufgebaut. Jede Szene trägt eine Überschrift und verweist damit auf das dramaturgische Prinzip des erzählenden Theaters: Eine Geschichte (S. 10); Eine andere Geschichte (S. 10); Eine neue Geschichte (S. 22); Eine alte Geschichte (S. 25); Das Audio. Die Eisenstange. Alles noch einmal und die ganze Geschichte von vorn (S. 30); Eine sehr alte Geschichte (S. 49); Sehr viele Geschichten (S.52); Lucas Geschichte (S. 57), so lauten die Überschriften. Die Wahrheitssuche folgt dem erzählenden Prinzip. Einzeln erzählte Geschichten mögen sich zu einem Ganzen zusammenfügen, können sich aber auch widersprechen, finden keine Korrespondenz zu anderen Geschichten. Die Autorin erweist sich hier einmal mehr als aufmerksame, zeitkritische Beobachterin unserer Gesellschaft und deren Meinungsbildung. Ein dauerndes, medial verbreitetes Geplapper umgibt uns tagtäglich. Überall scheinen Mikrophone aufgestellt zu sein, warten auf Worte, Worthülsen. Die Unterscheidungen zwischen wichtig und weniger wichtig, zwischen Wahrheit und Fake-News verwischen sich. Alles findet ungebremst seinen öffentlichen Raum. In einem Interview nimmt die Autorin Stellung auch zu ihren Beobachtungen über Politik und Gesellschaft.
Frage: Wie bist du auf die Idee gekommen, dieses Stück zu schreiben? Gab es einen konkreten Ausganspunkt?
Lena Gorelik: Ich erlebe die Zeit, in der wir leben, als sehr politisiert, aber auch als eine Zeit, in der sich Gräben zwischen sich widersprechenden Narrativen auftun. Ich denke also, wenn ich gesellschaftliche wie politische Debatten beobachte, viel über die Frage nach, welche Geschichten in den öffentlichen Raum gestellt werden. Wer sie erzählt, wer eine lautere Stimme hat, wozu Geschichten eben auch genutzt werden, wie Bilder entstehen. Das wollte ich herunterbrechen auf einen auf den ersten Blick privaten, singulären Konflikt, der am Ende ein Beispiel für Prozessmuster ist.
(Interview mit Lena Gorelik, in: Programmblatt SagdochmalLuca, Theater am Ortweinplatz, Graz 2023)
Fazit
Bereits in Goreliks erstem Theaterstück für Kinder, Als die Welt rückwärts gehen lernte (3), bedient sich die Autorin eines Schreibprinzips sich kontrastierender Grundideen. In Als die Welt rückwärts gehen lernte (2022) steht sich "DIE STINKNORMALE, ULTRANERVIGE WELT" jener, "DIE, IN DER ALLES ANDERS IST" (S. 10) gegenüber. Dabei ging es weniger um die Wahrheitssuche, um ein falsch oder richtig, sondern eher um die Fragen nach Toleranz und Vielfalt von Lebensmöglichkeiten. In SagdochmalLuca stellt die Autorin nun erneut kontrastive Gegensätze ins Zentrum, sieht die Welt aber weniger spielerisch. In der Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt befragt sie das gesellschaftliche Zusammenleben. Ohne Antworten zu geben, müssen die Zuschauerinnen und Zuschauer sich ihre eigene Meinung bilden.
Die Uraufführung fand am 13. September 2023 im Theater am Ortweinplatz in Koproduktion mit dem Next Liberty Jugendtheater und dem Theaterland Steiermark in Graz statt, Regie Manfred Weissensteiner.
Anmerkungen
1) Siehe z.B. Neigel Williams Klassenfeind oder Simon Stephens Reiher
2) Siehe z.B. Volker Ludwig, Detlef Michel: Das hältest ja im Kopf nicht aus, Grips Theater Berlin, Uraufführung am 18. September 1975. Anmerkungen dazu in: Das Grips Buch, Grips Theater (Hrsg.), Berlin 1994, S. 98 ff.
3) Eine Besprechung des Stückes Als die Welt rückwärts gehen lernte ist hier zu finden
Literatur
Gorelik, Lena: SagdochmalLuca. Hamburg, Rowohlt Theaterverlag, 2023
Gorelik, Lena: Als die Welt rückwärts gehen lernte. Hamburg, Rowohlt Theaterverlag, 2022
Programmblatt SagdochmalLuca. Dramaturgie Theater am Ortweinplatz, Graz. 2023
Website SagdochmalLuca. Theater am Ortweinplatz, Spielzeit 2023/24, Graz
Abbildungen
Abb. 1 Lena Gorelik. Foto: privat
Abb. 2 Theater am Ortweinplatz SagdochmalLuca, Foto: Clemens Nestroy
- Name: Gorelik, Lena