Fiktional oder faktual?

Literatur entsteht nicht im luftleeren Raum, vielmehr wird das Verhältnis zwischen Literatur und Wirklichkeit in fiktionalen Texten immer neu ausgelotet. Wie präzise Paul Maar bisweilen Geschichte in Geschichten überführt, hat Nikola Roßbach (2017) anhand der Werkstattskizzen zu Kartoffelkäferzeiten, einem seiner realistischen Romane, demonstriert. Aber auch Maars fantastische Texte sind keine entrückten Fantasiegebilde, sondern stehen in einem engen – oftmals psychologisierenden – Verhältnis zur realen Welt. Dass der fiktive Herr Taschenbier ein Vorbild in Herrn Wenner, einem Mitarbeiter im Betrieb von Paul Maars Vater, hat, wurde im Kapitel zur Deutung der Hauptfiguren bereits erwähnt. Zumindest punktuell wird die Trennung zwischen der Welt des Autors und der Diegese zusätzlich innerhalb der Romane aufgehoben. Im Vorwort zu Ein Sams zu viel rechtfertigt sich Maar beispielsweise, er habe die Geschichte nicht früher erzählen können, weil sie Frau Rotkohl peinlich war:

Doch kürzlich, während der Feier zu ihrem sechzigsten Geburtstag, sagte sie zu Herrn Taschenbier: „Ach, warum soll die Geschichte ewig geheim bleiben! Muss das sein? Nein, muss es nicht. Der Autor Maar darf sie gerne erzählen, wenn er das will!“ (Maar 2015, 6)

Literarische Figuren wissen üblicherweise nicht, dass sie Teil einer Geschichte sind, und kennen den Autor nicht. Wenn doch, so lässt sich – wie im zitierten Beispiel – von einer Metalepse sprechen. Es wird, so erläutert es Gérard Genette, die „heilige Grenze zwischen zwei Welten [durchbrochen]: zwischen der, in der man erzählt, und der, von der erzählt wird“ (Genette 1998, 168f.).

Weitere Einflüsse kann man im Verlauf der Romane zumindest erahnen. Im dritten Band beispielsweise lässt Maar seinen Verlag heimlich grüßen. Wenn sich die Titelfigur in Neue Punkte für das Sams zum Frühstück einen Hamburger wünscht und dabei an ein Nahrungsmittel denkt, erscheinen zwei Menschen aus Hamburg, die sich sogleich vorstellen: „Ich komme aus Hamburg-Duvenstedt und Erna und Hinrich hier aus Hamburg-Poppenbüttel“ (Maar 1992, 92). Damit adressiert Maar seine Grüße an den Verlag Friedrich Oetinger, dessen Sitz damals in der Poppenbütteler Chaussee 55 in Duvenstedt war.

Frau Blümlein und Herr Hespeler

Nimmt man heute Kontakt zum Verlag auf, hat man dort vielleicht mit Frau Blümlein zu tun. Liest man anschließend Sams in Gefahr, begegnet man einer Figur gleichen Namens dort wieder: „Frau Blümlein war Sekretärin in der Schule, an der [Herr Daume] als Sportlehrer arbeitete, und außerdem eine seiner vielen Bewunderinnen“ (Maar 2002, 8). So wie Maars Lieblingsautorinnen und -autoren oder Bücher, die er kennt und schätzt, intertextuell mit seinen Geschichten verwoben sind, scheinen auch reale Begegnungen mit dem Autor auf dessen Texte einzuwirken. Allerdings besteht bei solchen Übernahmen immer die Gefahr, dass sich die realen Personen in den literarischen Figuren verunglimpft sehen. Deswegen war Paul Maar zunächst in Sorge, spricht dann allerdings mit Helga Blümlein und schreibt schließlich, als er am 22.10.2002 das Manuskript an den Verlag schickt:

Es gibt auf der beigelegten Diskette eine Änderung gegenüber dem ausgedruckten Manuskript: Die naive Schulsekretärin hatte ich erst „Frau Blümlein“ genannt, weil mir der Name so treffend schien. […] Dann schien es mir diskriminierend für die echte Frau Blümlein aus dem Verlag zu sein und ich habe den Namen in „Frau Röslein“ geändert. So steht er nun im Manuskript. Als ich dies aber auf der Buchmesse Frau Blümlein erzählte, bat sie heftig darum, dass diese Sekretärin wieder wie sie heißt, auch wenn die Frau Blümlein aus dem Buch nicht gerade sehr hell ist. Ich fragte sie, ob sie dann nicht Angst vor dem Spott der Kolleginnen habe, aber sie wollte sehr gern das „Blümlein“ wiederhaben. (Weitendorf 2012, 116f.)

Der Band Das Sams und der blaue Drache geht ebenfalls von einer ‚wahren Begebenheit‘ aus: Peter Hespeler ist nicht nur Kunstlehrer und Schulleiter, sondern zusätzlich mehrfacher deutscher Meister im Bauen von Kunstdrachen. Zum 80. Geburtstag Paul Maars hat er Lenkdrachen nach Figuren aus den Sams-Romanen konstruiert. Neben dem Sams selbst sowie den Herren Taschenbier und Mon darf nun auch Frau Rotkohl endlich in die Luft gehen. Und während sie in den Romanen manchmal als Drache charakterisiert wird, ist sie nun zum (Lenk-)Drachen geworden.

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Peter Hespeler und Paul Maar mit dem Sams-Drachen
Foto: Angelika Hespeler

Als Dankeschön sozusagen hat Maar Das Sams und der blaue Drache, den zehnten Band seiner Sams-Reihe, geschrieben, in dem ein fiktiver Herr Hespeler vorkommt: „Am Samstagmorgen gingen die beiden in die Stadt zum Drachen-Laden. Der gehörte Herrn Hespeler. An der Ladentür hing ein Schild. Darauf stand, dass Herr Hespeler Ferien machte und in drei Tagen wieder da wäre“ (Maar 2020, 37). Da sich der Drachenkauf, den das Sams so sehr herbeisehnt, durch Herrn Hespelers Urlaub verschiebt, setzt es die Wunschmaschine in Gang, und die Geschichte nimmt einen gänzlich anderen Verlauf, denn es erscheint kein Drachen, sondern jener blaue Drache Ralfer, der zur Titelfigur des zehnten Bandes wird.

Merchandising

Trotz der Bekanntheit der Sams-Figur gibt es nur wenige offizielle Fanartikel. In einem Interview antwortet Paul Maar auf die Frage, warum man beispielsweise kein Faschingskostüm zum Sams kaufen könne:

Das lag an mir, weil ich meinem Verlag ziemlich streng verboten habe, Merchandising-Artikel vom Sams herzustellen und zu verkaufen. Ich wollte nicht, dass das Sams auf jeder Kindersocke, auf jedem Joghurtbecher zu sehen ist, wie das bei anderen Figuren oft der Fall ist. Das Sams sollte etwas Einzigartiges sein und in der Fantasie der Kinder leben, statt vermarktet zu werden. (Maubach 2016, 17)

Empört hingegen war Maar über die Idee einer Brauerei, ein Bier namens ‚Taschenbier‘ zu vermarkten. Sein Gegenargument lautet: „In einer Zeit, in der man vom Koma-Saufen und immer wieder von Alkoholexzessen schon bei Kindern lesen muss, halte ich es für verfehlt, ein Kindergetränk ‚Bier‘ zu nennen“ (Weitendorf 2012, 118). Darüber hinaus ist der Name als Markenbezeichnung ohnehin längst vergeben, zumindest innerhalb der Geschichte. Als in Sams im Glück in die Handlung eingeführt wird, heißt es dort:

Seit fünfzehn Jahren war das Sams also ohne Unterbrechung bei Familie Taschenbier. Genauer gesagt: bei Bruno und Mara Taschenbier. Denn Martin war mit Tina nach Australien ausgewandert. Die Schafwolle Marke „Tashenbeer“ war in ganz Australien berühmt und wurde sogar bis nach Europa verkauft. (Maar 2011, 8)

Dennoch hat es auch in der wirklichen Welt zwischenzeitig einzelne Merchandising-Produkte gegeben, beispielsweise eine Sams-Puppe der Firma Steiff, die aktuell in Sammlerforen im unteren dreistelligen Euro-Bereich gehandelt wird. Des Weiteren findet man u.a. ein Würfelspiel aus dem Hause Kosmos, einen Adventskalender und ein Freunde-Buch. 2023 erscheint bei Oetinger zum 50. Geburtstag des Sams zusätzlich ein Wunschpunktspiel, hier kann man ähnlich wie das Sams reimen, rätseln, rückwärts lesen, sich in Zungenbrechern versuchen, Begriffe pantomimisch darstellen oder – wenn man eine 1 würfelt – einfach einen Wunschpunkt nehmen.

Das Sams in Bamberg

Überdies taucht das Sams im Stadtbild Bambergs, dem Wohnort von Paul Maar, auf. Da hier große Teile des ersten Sams-Films gedreht wurden, bietet Maria Wunderlich Führungen auf den Spuren des Sams an. Dabei werden einige der Drehorte besucht, beispielsweise die Alte Hofhaltung, wo Herr Taschenbier das Sams zum ersten Mal trifft, sowie das Taschenbier-Haus in der Judenstraße. Vor allem der Spielplatz auf der ERBA-Insel ist dem Sams gewidmet. Dort finden sich neben einer Dreh-Skulptur, mit der man Herrn Taschenbier, Frau Rotkohl und Herrn Mon mischen kann, verschiedene Sams-Figuren aus Holz.

Sams ERBA Bamberg

Foto: Andreas Wicke

Etwas verloren steht dort auch eine Sams-Ampel, die eigentlich ganz offiziell den Verkehr regeln könnte. Schließlich gibt es neben den vertrauten Ampelmännchen deutschlandweit einige regionale Besonderheiten wie die Mainzelmännchen auf Mainzer Fußgängerampeln oder das Kasperle auf Ampeln in Augsburg. Allerdings werden solche Angelegenheiten in Deutschland durch die RiLSA, die Richtlinien für Lichtsignalanlagen, streng geregelt, und da die Sams-Ampel in Bamberg nicht zugelassen wurde, darf sie nur die Parkanlage zieren.

 Sams Ampel

Foto: Andreas Wicke

Das Sams wünscht frohe Weihnachten

Eine andere Sams-Devotionalie darf hingegen ganz offiziell eingesetzt werden: Es ist die Ausstechform, die ein liegendes Sams als Plätzchen produziert, die Vorlage hat Paul Maar eigens dafür gezeichnet. Wer beispielsweise aus Weimar bereits ein Ginkgoblatt als Keksausstecher mitgebracht hat, kann bei der Bamberger Touristeninformation nun noch ein Sams erwerben und sich aus Teig und Lebensmittelfarbe eine eigene Variante backen. Damit entgeht man außerdem jener Langeweile, die Herr Mon im neunten Band beklagt: „Immer bei allen Weihnachtsplätzchen von allen Familien immer die gleichen Sterne und Monde“ (Maar 2017, 89). Das Sams regt daraufhin an, man könne aus dem Teig eine „Würstchenform rausschneiden“ (Maar 2017, 90). Auf die Idee eines Sams-Keksausstechers ist es selbst offensichtlich nicht gekommen.

 Sams Kekse

Foto: Andreas Wicke

Mit dem Sams-Adventskalender, den Sams-Weihnachtsplätzchen und den Bänden Das Sams feiert Weihnachten sowie Das Sams und die große Weihnachtssuche steht einer ebenso gemütlichen wie samsigen Advents- und Weihnachtszeit also nichts mehr im Wege. Und damit, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich Ihnen ein frohes und gesegnetes Christfest, verabschiede mich aus dem Sams-Jahr 2023 und freue mich auf Band 12 der Sams-Reihe, der – so Paul Maar im Interview – bereits in Arbeit ist (vgl. Stierstorfer 2023).

Danke!

Danken möchte ich all jenen, die das Projekt Fünfzig Jahre voller Samstage so freundlich, geduldig und interessiert begleitet und unterstützt haben, sei es mit Archiv- oder Bildmaterial, sei es mit Antworten auf immer neue Fragen oder durch die Bereitschaft, mit mir Sams-Filme zu schauen oder Sams-Plätzchen zu backen. Namentlich möchte ich mich bedanken bei Judith Kaiser und Helga Blümlein von der Verlagsgruppe Oetinger, Silke Weitendorf von der gleichnamigen Stiftung, Tobias Kurwinkel sowie den Kolleginnen und Kollegen von KinderundJugendmedien.de, Claudia Pecher und der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur, die in München eine tolle Veranstaltung zum Sams-Geburtstag kreiert haben, bei Lena Müller und Oskar Rienaß für geduldiges und stilsicheres Korrekturlesen, vor allem aber bei Paul Maar selbst. Der Nachmittag, an dem wir gemeinsam in seiner Küche saßen und im Manuskript des Ur-Sams geblättert haben, war für mich ein ganz besonderer. Danke, lieber Paul!

Literatur

  • Maar, Paul: Neue Punkte für das Sams. Hamburg: Oetinger 1992.
  • Maar, Paul: Sams in Gefahr. Hamburg: Oetinger 2002.
  • Maar, Paul: Sams im Glück. Hamburg: Oetinger 2011.
  • Maar, Paul: Ein Sams zu viel. Hamburg: Oetinger 2015.
  • Maar, Paul: Das Sams feiert Weihnachten. Hamburg: Oetinger 2017.
  • Maar, Paul: Das Sams und der blaue Drache. Hamburg: Oetinger 2020.
  • Genette, Gérard: Die Erzählung. Übers. Andreas Knop, 2. Aufl. München: Fink 1998.
  • Maubach, Bernd: Ich habe das in mir gut bewahrt. Paderborner Autorengespräch mit Paul Maar. In: Paul Maar. Bielefelder Poet in Residence 2015. Paderborner Kinderliteraturtage 2016. Hg. v. Petra Josting und Iris Kruse. München: kopaed 2016. S. 15-36.
  • Roßbach, Nikola: Paul Maars Kartoffelkäferzeiten und der Realismus Überlegungen zu Werkstatt-Dokumenten des Autors. In: Paul Maar. Studien zum kinder- und jugendliterarischen Werk. Hg. v. Andreas Wicke und Nikola Roßbach. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017. S. 107-120.
  • Stierstorfer, Michael: Interview mit Paul Maar (2023). URL: https://www.kinderundjugendmedien.de/interviews/6721-interview-mit-paul-maar.
  • Weitendorf, Silke: Lieber Paul. Eine Hommage in Briefen zum 75. Geburtstag von Paul Maar. Hamburg: Oetinger 2012.

 

So zitieren Sie diesen Text:

Andreas Wicke: Fünfzig Jahre voller Samstage. Paul Maars Sams-Romane (2023). URL: https://sams.kinderundjugendmedien.de/